Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Rasierschaum im Gesicht?«
»Nein, es ist nichts, Opa.«
Nur dass ich deinen Fußabdruck neben einer Mädchenleiche im Wald gefunden habe …
Die Hände ihres Großvaters strichen ihr über den Kopf. Dieselben Hände, die das Leben eines kleinen Mädchens beendet hatten, ihr Großvater, auf dessen Knie sie schaukelte …
Hoppe, hoppe, Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben, fällt er in den Sumpf …
Sie wagte nicht, daran zu denken. Doch wenn es wahr war,dann stand sie vor dem Mörder ihrer Mutter. Dann war ihr Großvater der Eismörder. Er hatte ihr Gutenachtgeschichten vorgelesen, 1001 Nacht, Grimms Märchen … Ihr Großvater hatte zwei Gesichter, drei oder mehr … Doktor Jekyll und Mister Hyde.
Du siehst tote Philosophen. Dein Großvater ist ein Serienmörder. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland …
Großvater, der Geschichtenvorleser, der Knuddelopa, der sie heimlich ins Antiquariat mitnahm, Opa, der nachts aus dem Haus ging und tötete, an Weihnachten, wenn die Kälte über die Berge kam.
Erst zu Hause fasste Alice sich wieder. Es war, als hätte ihr Großvater sie verraten. Und wenn sie es genau überlegte, dann hatte ihr Großvater sich auch nicht dagegengestellt, dass ihr Vater sie für zwei Wochen in die Psychiatrie steckte. Therapie, unter der Beobachtung von Dr. Schreber. Was für ein eleganter Weg, sie loszuwerden! Wenn sie erst einmal als psychisch labil eingestuft wurde, dann würde ihr sowieso niemand mehr glauben, selbst wenn sie die Wahrheit schwarz-weiß auf der Hand hätte.
Sie wählte Toms Nummer. Keine Verbindung. Wenn ihr Großvater aber wusste, dass sie die Leiche im Wald gefunden hatte? Wenn er wusste, dass sie die Einzige war, die nicht wieder an einen tragischen Unfall glaubte? Kältetod, zufällig am 23. Dezember. Ein Tag vor Weihnachten. Doch wann hätte ihr Großvater die Tat begehen sollen? Er half bei den Vorbereitungen für das Weihnachtsessen. Dann holte er die Tanne aus dem Wald für den Christbaum. Er schnitt den schönsten Christbaum ab und … Ihr Großvater konnte so etwas nicht tun. Doch Alice erinnerte sich an Ted Bundy, der von Angehörigen und anderen, die ihn kannten, als liebreizender Mensch beschriebenwurde. Wenn sie nun aus einer Familie von Geisteskranken stammte? Vielleicht hatte ihr Großvater, als er jünger war, auch tote Philosophen gesehen und mit ihnen geredet. Das hieße, auch sie würde eines Tages töten. Das war absurd. Sie hatte etwas übersehen, irgendein verdammtes Detail. Warum ging Tom nicht ans Telefon?
Alice packte ihren Rucksack. Vielleicht war er schon auf dem Weg zur Kirche. Ein Alleingang – das sah Tom wieder ähnlich.
Alice war schon an der Tür, als sie auf der anderen Seite hörte, wie jemand sich die Schuhe abtrat. Sie hatte den Wagen ihres Vaters nicht gehört. Sie lief zum Küchenfenster und drückte sich an die Scheibe. Ihr Großvater klopfte seine Schuhe ab. Er klingelte. Aber er hatte doch einen Schlüssel. Warum klingelte er dann? Um sich zu vergewissern, dass ihr Vater nicht da war. Dass er ungestört war, um sein Werk zu vollenden. Alice hatte das Gefühl, plötzlich in einem Hollywood-Alptraum zu sein. Aufwachen, aufwachen, dachte sie halblaut vor sich hin. Sie konnte sich irren, und es war nur ein Zufall. Ihr Großvater war nur ein harmloser Opa, der ihr Geschichten vorlas. Sie konnte sich irren oder nicht … Sie nahm die Abkürzung durch das Wohnzimmer, nahm die Treppe zur Waschküche und verließ das Haus über den Hintereingang der Waschküche. Sie hörte noch, wie ihr Großvater das Haus betrat.
Wenn die Temperaturen in Hintereck sanken, dann war der Himmel meist klar. Doch in diesem Jahr kam mit der Kälte eine unbeweglich starre Wolkenschicht über die Bergkämme. Alice hatte den Weg zur Kirche schon zur Hälfte zurückgelegt, als sie an der Wegkreuzung stehen blieb. Vor ihr der gekreuzigte Herr Jesus an einem rostigen Kreuz, das in einem vom Frost gesprengten Sockel steckte. Auch vom Jesus war nur noch der Oberkörper zu sehen. Da lebte die Welt im Computerzeitalter,und in Hintereck war man noch abergläubisch wie im Mittelalter. An jeder Wegkreuzung stand ein Kreuz. Das sollte das Unheil fernhalten. Alice hatte sich nicht geirrt, auf der Bank hockte in eisiger Kälte Adelheid Grundinger.
Alice fuhr zusammen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihren Großvater, wie er die alte Frau getötet hatte, um sie dann auf die Bank zu setzen. Sie näherte sich der alten
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