Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Schmerz in ihrem Arm. Wittgenstein saß noch immer vor ihr.
»Warum gerade ich? Ich verstehe es einfach nicht.«
»Wir können dich nicht länger schützen.«
»Vor wem?«
»Vor den Namenlosen. Den dunklen Gedankenarchitekten. Sie werden dich finden und dich auf ihre Seite ziehen wollen.«
»Woran erkenne ich sie?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß es nicht.«
»Haben die Namenlosen etwas mit den Morden zu tun?«
Der Korbstuhl vor ihr war plötzlich leer. Wittgenstein war genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Dudelidooo, Alice, du wirst dich wohl fühlen in der Gummizelle. Willkommen im Club der toten Philosophen.
Alice schlug eine Seite von Wittgensteins Tractatus logicophilosophicus auf:
5.6.31 Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht.
Wenn ich ein Buch schriebe »Die Welt, wie ich sie vorfand«, so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht etc., dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, dass es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt: Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche nicht die Rede sein.
5.6.32 Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.
Sie legte sich auf ihr Bett und zog die Decke über ihr Kinn. Wittgensteins Sätze flirrten wie Mücken durch ihren Kopf. Sie gehörte nicht zu ihrer eigenen Welt … sie war ihre Grenze.
Die Müdigkeit flüsterte in Wittgensteins Fistelstimme. Die Stimme war in ihrem Kopf. Architekten des Bösen.
Alice, dein Verstand geht gerade den Bach runter. Und nichts kann dir helfen. Ihr Zimmer war kalt geworden. Draußen gefror die Welt, und in irgendeinem Haus in Hintereck dachte jemand über ihren Tod nach.
TEIL DREI
Jagd
24.
Am nächsten Morgen lag keine Zeitung auf dem Tisch. Auch die Post fehlte.
Das Postauto war im Schnee stecken geblieben, und der Zeitungsausträger aus Hindelang war nicht bis nach Hintereck durchgekommen. Ihr Vater hatte schon früh das Haus verlassen, und von Amalia war kein Ton zu hören. Alice zog sich ihre Moonboots an, warf sich ihren Anorak über und stapfte durch den harschen Schnee zum Haus ihres Großvaters. In der Morgensonne glitzerte der Schnee wie ein stiller See. Das Thermometer zeigte noch minus 16 Grad an. Der Schnee war pulvrig und machte Geräusche wie zerbrechendes Knäckebrot. Der Wagen ihres Vaters war nicht da. Sie musste so tief geschlafen haben, dass sie nichts gehört hatte. Vielleicht war er zu einem neuen Tatort gerufen worden? Sie musste dringend herausfinden, wer das tote Mädchen war.
Auf halbem Weg erkannte sie schon den Rover ihres Großvaters vor dem Haus. Daneben stand ihr Großvater und schippte Schnee weg. Er hatte sie noch nicht gesehen, als sie im Schnee eine zweite Fußspur entdeckte. Die Spur bog ab und verlor sich in dem Wäldchen am Hang und führte zum Haus ihres Großvaters. Alice hatte das Haus fast erreicht, als sie bemerkte, dass die Spur von seinem Haus wegführte, hinauf in das Wäldchen und wieder zurück. Und Alice hätte darüber auch keine Sekunde mehr verschwendet, wenn da nicht etwas gewesen wäre. Ihre Hand begann fast zu zittern, als sie mit ihrer Hand dieGröße ausmaß. Dieselbe Größe, doch was noch erdrückender war: Die Sohle war im Fersenbereich gerissen. Wenn es nicht ein nach kosmischer Rechnung unglaublicher Zufall war, dann hatte sie denselben Fußabdruck vor sich, den sie im Wald bei der Leiche und auch am Grab ihrer Mutter gefunden hatte.
Sie näherte sich ihrem Großvater, bis es keinen Zweifel mehr gab. Sie stand hinter ihm, die Stiefel drückten sich in den Schnee und hinterließen ihre unverkennbare Spur. Der Schuh gehörte ihrem Großvater. Alice glaubte den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. Der gepresste Schnee vom Schneepflug war selbst für Großvater, der sein Leben lang hart gearbeitet hatte, zu viel Gewicht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein rechtes Bein zog er leicht hinter sich her. In diesem Augenblick drehte sich ihr Großvater um, die Schneeschaufel wie eine Sense in der Hand.
»Alice, hast du mich erschreckt! Ich habe dich gar nicht gehört. Willst du mir beim Schippen helfen?«
»Nein, ich muss auch bald los«, sagte sie und rang nach Atem.
»Was ist denn? Du siehst aus als, hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Es ist nichts. Nur die Kälte.«
»Warum schaust du mich so an? Habe ich noch
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