Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Unglücklichseins, von Adibert Lehmko.
Alice war beeindruckt. Alles hätte sie in Hintereck vermutet, nur keinen Schriftsteller und Philosophen. Lehmko war als Lehrer ein Einzelgänger. Sie sah ihn nie mit seinen Kollegen außerhalb der Schule. In den Gängen hielt er wie ein Mönch seinen Kopf gesenkt, versunken in Gedanken und nur aufgeschreckt durch das zu laute »Grüß Gott, Herr Lehmko«, was weniger ein Gruß als vielmehr ein Ulk war. »K. O.«, hallte es durch die Schulzimmer, wenn sie sich hinter Lehmko schlichen und dann »Grüß Gott« blafften. Nur, was hatte ein Schriftsteller und Philosoph wie Lehmko in Hintereck zu suchen? Schließlich war er keine elf Jahre alt und musste hier nicht leben. Für Alice gab es keinen vernünftigen Grund, in Hintereck auch nur einen Tag mehr als nötig zu verbringen. Die einzige Perspektive, die manin Hintereck hatte, war der Dorffriedhof. Dort endete alles, was nie begonnen hatte.
Über den Buchpreisauszeichnungen und philosophischen Abhandlungen stand eine Reihe mit trivialer Unterhaltungsliteratur. Norman Malville und seine Serie von Vampirromanen. Alice hatte zwei davon gelesen. Sie waren spannend geschrieben und spielten alle in der fiktiven Stadt Gorlau. Interessant an Malvilles Vampirbüchern war, dass die Vampire nicht die blutsaugenden Bösewichte waren, sondern die eigentliche Gesellschaftsordnung darstellten. Der Bürgermeister, die Polizei, die Wäschereibesitzerin, alles Vampire. Sie hatten es mit einer gefährlichen Spezies zu tun, die sie am Tage heimsuchten, im tödlichen Sonnenlicht. Wesen, die anfangs nur als Blutlieferant gezüchtet worden waren, lebten in der Kanalisation und töteten regelmäßig brave Vampirbürger. Nichts Belehrendes, aber ziemlich unterhaltend. Was konnte aber ein Gelehrter wie Lehmko damit anfangen?
Stephans Vater verließ die Stube und kam einige Minuten später wieder mit Mantel und Schal.
»Ich muss noch kurz was erledigen«, sagte er und hielt die Tür offen. »Du kümmerst dich um unseren Gast, Stephan.«
Am Hals von Stephan klebten noch Spuren von Amalias Lippenstift. Das war wie Fettflecke in einem Buch.
»Kennst du Malville?«, fragte Stephan.
»Ich habe die ersten zwei gelesen.«
»Das letzte ist richtig gut.«
»Hast du alle gelesen?«
»Gezwungenermaßen. Mein Vater hat sie geschrieben. Malville ist sein Pseudonym. Eine Abwandlung von Melville, dem Autor von Moby Dick.«
»Er arbeitet aber trotzdem als Lehrer? Die Vampserie verkauft sich doch wie warme Semmeln.«
»Er unterrichtet nur noch halbtags. Die meiste Zeit verbringt er in seinem Büro und schreibt. Du hast das erste gelesen?«
Stephan zog den ersten Band aus dem Regal. Alice konnte sich an das Buch nicht mehr erinnern. Nur noch, dass es spannend gewesen war und dass sie es in einer Nacht ausgelesen hatte. Als sie das Buch in beiden Händen hielt und auf den Umschlag sah, wurde ihr schlecht.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Stephan. »Wollen wir uns auf die Eckbank setzen?«
»Es geht schon. Es ist nur so warm hier …«
Ja, es ist heiß hier, wie in der Hölle selbst. Stück für Stück tropfte die Erinnerung des ersten Buches von Malville alias Adibert Lehmko in ihren Schädel. Tropfen, die aus großer Höhe in die Tiefe fielen. Alice starrte auf den Buchumschlag. Knallbunt, mit roter Schrift. Vamp. Von Norman Malville . Darunter der Kopf eines Harlekins mit weiß geschminktem Gesicht. Sie kannte den Weißclown, es war derselbe, den sie im Bus gesehen hatte.
»Komm, ich zeige dir das Haus.«
Alice folgte Stephan durch die unpraktisch aneinandergeschachtelten Zimmer. Überall Bücher. Das Haus hatte nicht die Aufteilung von Zimmern, wie man es bei einem Haus gewöhnt war, sondern glich einem Labyrinth. Manchmal waren es nur vier oder fünf Stufen, um ins nächste Zimmer zu gelangen, manchmal kletterte sie eine steile Leiter nach oben. Das Haus war ein alter Bauernhof und hatte unter dem Dach riesige Heuspeicher. Lehmko hatte das Haus bis unters Dach in eine Bibliothek umgewandelt. Zum Teil waren die Decken herausgenommen worden, und eine Rundtreppe schraubte sich wie eine ausladende Spirale bis unter das Dach.
»Ihr habt ja mehr Bücher hier als in der Stadtbibliothek in Hindelang.«
»Die Anzahl ist gar nicht so entscheidend, sondern welche Bücher hier stehen. Hier siehst du das Familienerbe von vier oder fünf Generationen. Die Lehmkos waren früher Kaufleute. Das meiste haben sie in Bücher investiert, und wie durch ein Wunder hat die
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