Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Sechsen.
»Ein Brief, für dich. Soll ich dir geben.«
»Von wem hast du den?«
»Von deinem Liebsten.«
»Wenn du nicht aufhörst damit, dann kannst du dir ein paar richtige Schellen einfangen.«
»Hoho, große Schwester. Bevor du mich noch weiter bedrohst… Ich soll dir den Brief von Stephan übergeben. Das ist alles. Lass deine Wut an ihm aus und nicht an mir.«
»Wann hat er dir den Brief gegeben?«
»Heute Nachmittag. Er hat mir die Bibliothek gezeigt.«
»Was machst du in Stephans Haus?«
»Schon vergessen. Sein Vater ist mein Klassenlehrer.«
Amalia grübelte. Man sah ihr die körperliche Verspannung richtig an, wenn sie ihre grauen Zellen bemühte.
»Kein Wort zu Vater«, sagte sie schließlich. »Hast du das verstanden?«
»Du meinst, ich soll ihm nichts von deiner Knutscherei sagen und von den widerlichen Dingen …«
»Kein Wort!«
»Schon gut, liebe Schwester. Manus manum lavat.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt: Eine Hand wäscht die andere.«
»Klugscheißerin!«
Amalia hatte verstanden, und damit hatte sie auch die Zerbrechlichkeit jeder Macht verstanden. Alice hatte sie in der Hand. Solch ein diplomatischer Vorteil würde ihr bei Gelegenheit nutzen können. Im Augenblick war aber etwas ganz anderes am Laufen. Vor dem Haus hielt ein Wagen. Ihr Vater öffnete die Tür. Und dann geschah das Unfassbare. Zwei Beamte in Uniform, die Alice bisher noch nie gesehen hatte, legten Großvater Handschellen an. Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Alice glaubte ein Kopfschütteln zu erkennen. Glaub ihnen nicht. Es konnte aber auch etwas ganz anderes heißen. Noch nie hatte sie ihren Großvater so verzweifelt und hilflos gesehen. Die Schuhabdrücke im Schnee. Wenn es nun doch einen Zusammenhang gab? Wenn die alte Grundinger sich getäuscht hatte? Wenn sie in der stürmischen Nacht keinen jungen Mann gesehen hatte? Einen jungen Mann, den sie für ihren Alois hielt.Wenn die Spuren im Wald und an Mutters Grab vom Großvater stammten? All das gab keinen Sinn. Warum hätte er die Leiter unter ihr Fenster stellen sollen? Ihr Großvater hatte einen Schlüssel. Wollte er es so aussehen lassen, als ob jemand eingebrochen war? Hatte er geplant, seine eigene Enkelin zu ermorden? War ihr Großvater der Eismörder? Und war es ihr eigener Großvater, der vor vier Jahren ihre Mutter getötet hatte?
Das ergab wenig Sinn, aber sie wusste auch, warum man bei Ermittlungen keine Beamten einsetzte, die persönlich von einem Fall betroffen waren. Es war einfach unmöglich, logisch und objektiv zu denken. Doch das musste sie. Sie hatte keine Wahl. Sie musste unbedingt herausfinden, was gegen ihren Großvater vorlag. Von den Fußspuren wusste nur sie.
Den Beamten in Zivil kannte sie. Es war der patzige Beamte mit seinem gestelzten Akzent, der ihren Vater so angeblafft hatte. Kommissar Engelhardt. Alice ging auf ihren Großvater zu. »Warum nehmen Sie meinen Großvater mit?«
»Schon gut«, sagte ihr Großvater und strich ihr über den Kopf, »die tun nur ihre Arbeit. Ich bin bald wieder da.«
»Sie brauchen ihm keine Handschellen anzulegen wie einem Schwerverbrecher.«
»Vorschrift«, sagte einer der Uniformierten.
»Erzählen Sie doch keinen Mist«, erwiderte Alice schroff. Der Beamte war überrascht. Solch ein Mundwerk hatte er nicht bei einer Elfjährigen erwartet.
»Es reicht jetzt«, sagte ihr Vater.
»Nein, sie sollen Großvater in Ruhe lassen.«
»Alice, ich sage, es reicht.«
»Hör auf deinen Vater, Kleines, und jetzt geh aus dem Weg.«
»Sagen Sie mal, Kommissar, warum untersuchen sie nicht einmal die Schmierereien auf der Kirchenpforte … Jedes Jahr schmiert jemand eine 11 auf die Pforte, und jedes Jahr erfriertein Mensch unter ungeklärten Umständen. Dieses Jahr wieder …«
»Lass mich meine Arbeit machen, und geh aus dem Weg.«
Der zweite uniformierte Beamte packte Alice an beiden Armen und stellte sie einfach zurück in den Flur. Sie konnte nur zusehen, wie Engelhardt ihren Großvater in den Wagen schob, dann tauchten die Rücklichter des Wagens in dem dichten Schneegestöber unter.
»Ich will jetzt nichts hören, Alice, nicht einen Ton.«
»Weißt du, dass du gerade meine Psyche beschädigst?«
»Was? Ich habe jetzt keinen Nerv für dein Gefasel.«
»Das ist kein Gefasel. Ein Ereignis wird dann als traumatisch empfunden, wenn es keine Worte dafür gibt, keine Vorstellung, wenn es alles Vorstellbare übersteigt.«
»Wir reden ein andermal darüber.«
»Nein, jetzt«, schrie
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