Die Eistoten: Thriller (German Edition)
geben.
Wittgenstein war weit und breit nicht zu sehen. Dicke Wolken zogen ins Tal. Diese Nacht würde es viel Schnee geben.
32.
»Ich muss Sie sprechen. Sofort.«
»Komm später wieder. Die Kirche ist geschlossen.«
»Pater Bez, ich weiß, wer er ist.«
Es war plötzlich still auf der anderen Seite der Kirchenpforte.Alice konnte die schlurfenden Schritte des Paters hören. Sie trommelte mit ihren Fäusten gegen die massive Holztür.
»Machen Sie auf, Pater. Es geht um Leben und Tod.«
Wieder nur Stille. Alice drehte sich um. Die Turmuhr schlug ein Uhr Mittag. Vom »Schwarzen Bichl« wehten Stimmen herüber. Alice glaubte, die Stimme von Haas und Gruber zu hören. Sie hob wieder ihre Faust, doch bevor sie gegen die Pforte hämmern konnte, drehte sich der Schlüssel, und eine unsichtbare Mechanik setzte Federn und Riegel in Bewegung. Pater Bez stand in der halb offenen Tür. Seine Augen waren gerötet, und aus seinen Mundwinkeln tropfte Speichel. Der Geruch von Alkohol strömte aus seinen Kleidern, seinem Mund und quoll feucht über die Tränensäcke.
»Komm bitte später wieder. Zum Gottesdienst oder …«
»Pater, Sie wissen, dass ich nicht an Ihren Gott glaube.«
»Was willst du dann in seinem Haus?«
»Ich will mit Ihnen jetzt nicht über Gott streiten, an den Sie schon längst nicht mehr glauben.«
»Warum so respektlos, kleines Mädchen? Ich habe dir doch nichts getan.«
»Weil Sie nichts tun, deshalb lebt der Teufel unter uns. Sie schützen ihn.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Das wissen Sie genau. Ich rede vom Eismörder. Er tötet seit Jahren kleine Mädchen, Frauen und alle, die ihm zu nahe gekommen sind. Er lebt mitten unter uns.«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, wer er ist. Ich kann es nur nicht beweisen. Sie müssen mir helfen!«
»Wie kann ich dir helfen? Ich bin nur ein Landpfarrer. Ich weiß nichts von solchen Dingen. Zu mir kommen Menschen, wenn Sie Trost suchen und Vergebung.«
»Ja, Vergebung. Das sucht er auch bei Ihnen.«
»Jeder hat ein Recht auf Vergebung. Keiner ist frei von Sünde, und Jesus liebt seine Sünder, wenn sie den rechten Weg erkennen und Buße tun.«
»Er beichtet Ihnen die Morde, stimmt’s? Er sagt Ihnen, was er tun wird, und Sie lassen es zu. Emma Bratschneider, Ina Zugl … sie waren beide noch keine zwölf. Sie wussten es!«
»Ich bin nur Gottes Ohr. Nicht sein Mund. Das Beichtgeheimnis ist heilig. Wer es bricht, der ist auf ewig verdammt.«
»Was ist schon die Verdammnis, wenn Sie dadurch das Leben von unzähligen kleinen Mädchen retten? Selbst wenn Sie eine Sünde begehen und das Beichtgeheimnis verraten, so ist es nur, um Menschen zu retten. Gott wird Ihnen das verzeihen.«
»Ich bin nur Gottes Ohr. Gott wird den Schuldigen selbst bestrafen, wenn es so weit ist. Am Jüngsten Tag holt er die Reuigen zu sich, und die Schlechten wirft er in die Hölle.«
»Sie sind genauso schlimm wie der Eismörder selbst. Sie schützen ihn und geben ihm Absolution.«
»Nur Gott kann über ihn richten.«
»Wie können Sie nur damit leben?«
»Geh jetzt und lass mich allein.«
»Wie viel Flaschen Rotwein brauchen Sie, um zu vergessen«, schrie Alice den Pfarrer an. »Ist Ihnen klar, was Sie tun? Wenn Sie mir nicht helfen, dann wird er auch mich töten. Helfen Sie mir!«
»Ich bete für dich.«
»Beten?« Alices Stimme schrillte durch das Innere der Kirche.
Pater noster, qui es in caelis:
Sanctificetur nomen tuum.
Adveniat regnum tuum.
Fiat voluntas tua,
sicut in caelo, et in terra.
Panem nostrum cotidianum da nobis hodie.
Et dimitte nobis debita nostra,
sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.
Das Vaterunser drang aus dem Mund von Pater Bez wie aus einem Leierkasten. Er schob die schwere Tür vorsichtig wieder zu, doch kurz bevor er sie geschlossen hatte, schob Alice ihren Fuß dazwischen.
»Pater Bez, was hat die 11 zu bedeuten?«
»Was für eine 11?«, lallte er und leierte weiter das Vaterunser herunter.
Et ne nos inducas in tentationem,
sed libera nos a malo.
Quia tuum est regnum, et potestas, et gloria, in saecula.
Amen.
»Was bedeutet die 11?«, wiederholte Alice.
Der Pfarrer wich vor ihr zurück. Warum konnte er nicht verstehen, dass es hier um mehr ging als nur um Worte, um Gebete, Beichtgeheimnis? Wie konnten dem Pfarrer ein paar Worte wichtiger sein als ihr Leben? Was war das für eine verkehrte Religion, in der selbst das Böse noch unterschlupfen konnte, wenn es Reue zeigte? In ihr brodelte es, doch sie
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