Die Eistoten: Thriller (German Edition)
wusste auch, dass der Pfarrer nicht ein Wort sagen, geschweige denn eine Aussage bei der Polizei machen würde. Er fürchtete um sein Seelenheil und opferte dafür ihr Leben. In diesem Augenblick verstand Alice, dass den Menschen Worte und irgendwelche Vorstellungen, mit denen sie sich die Welt erklärten, wichtiger waren als ihr Leben. Ihr Vater hörte nicht auf, ihr einzureden, dass sie in einer Phantasiewelt lebte, dass sie keinen Realitätsbezug hatte. Sie sei eben ein Kind von elf Jahren, doch was war mit all den Erwachsenen,die sich am Sonntag vor einem Holzkreuz niederknieten und sich immer wieder dieselbe Geschichte von der Auferstehung der Toten und dem ewigen Leben anhörten und dies für einen Teil ihrer Wirklichkeit hielten?
»Es sind zwölf Apostel und nicht elf, Zehn Gebote und nicht elf … Was haben diese Schmierereien an der Kirche zu bedeuten? Helfen Sie mir, Herr Pfarrer!«
Im trüben Blick des Pfarrers blitzte ein Funken. Er lehnte sich an die Pforte.
»Ich bin Gottes Ohr … Ich darf nicht reden, verstehst du, ich darf nicht reden …«
Mit diesen Worten schloss er die Pforte. Alice stand allein vor der Kirche. Die Wolken sackten ins Tal ab. Sie fröstelte. In Gedanken sah sie ihr eigenes Grab, davor Pater Bez, wie er das Vaterunser leierte – auf Lateinisch. Obwohl keiner im Dorf Latein konnte, außer Lehmko … Ihr Vater stand am Grab, daneben Amalia, telefonierend. Es war eisig auf ihrer Beerdigung. Jeder war froh, dass sie schnell vorbei war.
Sed libera nos a malo.
Sondern erlöse uns von dem Bösen.
Kein Mensch in Hintereck verstand Latein bis auf den Pfarrer. In Hintereck war seit Generationen der Pfarrer der einzige Mensch mit Bildung. Der Pfarrer und der Lehrer. Latein war für die meisten Dörfler nur heiliges Geschwurbel. Man wiederholte es und dachte nicht darüber nach. Das hätte auch nichts daran geändert, wenn es in Deutsch oder Japanisch geschehen wäre, solange es kein Preußenakzent war. Denn Gott – so viel verstanden die Hinterecker – sprach kein geschwollenes Hochdeutsch. Gott redete wie sie. Wozu dann das Latein?
Alice war es nicht aufgefallen. Was sagte Wittgenstein zu ihr, wenn ihr manchmal etwas nicht einfiel? »Du bist zu nah an der Frage, um zu sehen, dass es eigentlich gar keine Frage ist.«
Natürlich! Der Pfarrer durfte nicht reden. Er war das Ohr Gottes. Doch wie lange beichtete der Eismörder schon, und wie lange war Bez dazu verdammt, sein teuflisches Spiel mit anzusehen? Er durfte nicht reden … Der Pfarrer durfte nicht darüber reden. Doch er konnte einen Hinweis geben. Etwas, was den Mörder nicht verriet und das Beichtgeheimnis schützte und damit sein Seelenheil, aber was dennoch ein Hinweis war. Deshalb hatte er das Vaterunser plötzlich in Latein heruntergeleiert. In Hintereck verstanden nur zwei Latein: der Pfarrer und der Lehrer. Lehmko. Und wenn Bez in der Messe anscheinend selbstverständlich ins Lateinische wechselte, so wandte er sich direkt an Lehmko. An ihn allein gingen die lateinischen Mahnungen, die sonst keiner verstand. Alice bereute, dass sie seit Jahren nicht mehr in die Kirche gegangen war, in keine Messe. Nur Weihnachten. Doch ihr wäre höchstwahrscheinlich gar nicht aufgefallen, dass die lateinischen Stellen ein verschlüsselter Hinweis waren.
Ich darf nicht reden …
Warum regte sich denn in diesem Dorf keiner über die Schmierereien an der Kirchenpforte auf? Wo doch sonst den Hinterecker alles störte. Im Sommer störten ihn die bunten Jacken der Touristen, weil das die Kühe erschreckte, und im Winter störte ihn der Schnee. Der Schneepflug störte, weil er immer riesige Haufen vor die Einfahrt schob, und er störte, wenn er am Morgen eine Stunde später kam. Die Rechtschreibreform wurde in Hintereck abgelehnt, weil man sich weigerte, sich an jeden neuen Unsinn zu gewöhnen. Anton Haas beantragte im Heimatclub, der mit einer Stimme im Gemeinderat vertreten war, dass auf den Berggipfeln Rauchverbot gelten sollte. Rauchen dürften nur die Einheimischen, und zwar nur Pfeife. Es gab kein Thema und keine noch so unbedeutende Unsinnigkeit, die in Hintereck nicht schon Gegenstand von Streitereiengewesen waren. Trotzdem hatte keiner ein Wort über die Schmierereien verloren.
Alice konnte es nicht fassen. Der Pfarrer hatte ihr die Tür vor der Nase zugeknallt. Anton Haas, der das Friedhofsgatter hinter sich zuzog, grinste schadenfroh, als er Alice davontrotten sah.
»Besonders g’scheit war das nicht«, sagte Haas und zeigte
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