Die Elefanten meines Bruders (German Edition)
an Kopf, Brust und Bauch trifft, hatte gewonnen. Wir sind herumgesprungen wie Wildkatzen, damit uns der Lichtstrahl des anderen nicht trifft. Aber wir sind nicht fertig geworden, weil Marlies sagte, ob wir bitte aufhören können und dann sind wir sowieso abgedampft. Marlies erklärte, dass nichts passieren kann. Aber wenn eine U-Bahn kommt, muss ich ihr die Hand geben und Mona muss Serrano die Hand geben. Und vor allem müssen wir immer direkt hinter ihnen bleiben und dürfen nicht herumlaufen, weil die U-Bahnen nicht so schnell bremsen können, auch wenn sie uns noch sehen.
Dann sind wir los und in den Tunnel hinein. Am Rand führt ein ganz schmaler Weg entlang, den man vom Bahnsteig aus nicht sehen kann. Wie ein Trampelpfad durchs Gebüsch.
Dann kam plötzlich eine U-Bahn. Irgendwo hat es ganz laut gehupt und dann war plötzlich der Zug hinter uns. Er ist ganz langsam gefahren, aber Marlies hat mich trotzdem an der Hand genommen. Die Leute haben blöde raus geglotzt, so wie ein paar Wochen vorher Mona und ich. Wahrscheinlich haben sie zuerst geglaubt, wir sind irgendwie vom Weg abgekommen. Aber dann haben sie unsere Helme mit den Lichtern gesehen und gewusst, dass wir irgendwas an der Baustelle machen müssen.
Eine U-Bahn ist ganz schon hoch, wenn man auf dem Gleis neben ihr steht. Sie ist ungefähr doppelt so hoch wie normal für ein Kind. Für Erwachsene bestimmt noch eineinhalb mal so hoch wie normal. Wenn man im U-Bahnhof einsteigt, dann vergisst man ja immer, dass unten noch die Räder und das ganze andere Zeug ist. Vielleicht vergessen das die anderen Leute gar nicht, aber ich vergesse es immer. Jetzt war die U-Bahn so hoch, dass die Leute drinnen auf uns runtergesehen haben. Ungefähr so, wenn man auf dem Zebrastreifen ist und der Stadtbus langsam an einem vorbeifährt. So hoch waren die Leute. Und wir waren so weit unten.
Und dann habe ich Phillipp gesehen. Er ist im letzten Wagen am letzten Fenster gesessen. Er ist mir aufgefallen, weil er plötzlich gewunken hat und versucht hat mir was zuzurufen. Aber es war so laut im Tunnel, dass ich gar nichts gehört habe. Ich habe zuerst gelacht, weil ich gemeint habe, dass der Junge auch gerne mit uns den Tunnel ansehen will und jetzt ganz neidisch auf Mona und mich ist.
Dann kam die U-Bahn noch näher und wurde noch langsamer, weil sie in der Kurve war, und dann war er mit seinem Gesicht hinter der Scheibe ungefähr nur noch einen Meter von mir weg. Ich habe ganz laut „PHILLIPP“ gerufen, aber es war so laut im Tunnel, dass ich es selber gar nicht gehört habe. Die U-Bahn machte so einen Lärm wie ein startendes Flugzeug. Und sie hat auch so gequietscht in der Kurve. Iiiieeeehhhhhhiiieeehhhhhh. Phillipp hat auch aufgehört zu winken und zu rufen und sein Gesicht an die Scheibe gepresst und mich angestarrt. Er hat fast genauso ausgesehen, wie ich ihn in Erinnerung habe. Er war immer noch so bleich wie an dem Tag, als ihn meine Mutter die Böschung hochgetragen hat.
Die U-Bahn war ganz voll gewesen. Eine ganze Menge Leute sind gestanden. Ich hasse es, wenn ich mit Mona in die U-Bahn komme und stehen muss. Unsere U-Bahn fährt nämlich immer mit einem Ruck an, dass man sofort umfällt, wenn man sich nicht an einer von den silbernen Haltestangen festhält. Aber davor graut mir. Das ist noch schlimmer als Salat mit Tierpipi. Denn alle Leute, die sich nach dem Klo nicht die Hände waschen oder sich von ihrem Hund über die Hände lecken lassen, fassen auch an die Haltestangen. Ich habe mal geträumt, dass ich aus Versehen an die Haltestangen gefasst habe und dann am nächsten Morgen mit einem geschwollenen Hals und lauter blauen Flecken aufgewacht bin. So wie bei Windpocken. Sie haben auch so gejuckt wie bei Windpocken, aber die Flecken waren eben hellblau. Deshalb ist meine Mutter gleich zum Arzt mit mir. Aber der Arzt hat nur die Stirn gerunzelt und immer „Hmhmhm“ gesagt, genau dreimal „hm“, „Hmhmhm“. Und dann meinte er, dass er kein Gegenmittel hat, weil es eine außerirdische Form von Windpocken ist, gegen das es hier kein Medikament gibt.
Deshalb fasse ich nicht an die Haltestangen in der U-Bahn und schaue, dass ich mit Mona einen Sitzplatz bekomme, bevor wir losfahren. Manchmal sitze ich auch bei Monas Mutter auf dem Schoß. Sie hält mich dann ganz fest, wenn wir losfahren und beschützt mich vor den außerirdischen Windpocken.
Im letzten Wagen ist aber nur Phillipp gewesen. Nur er ganz allein. Der Wagen war ganz hell innen erleuchtet.
Weitere Kostenlose Bücher