Die Elefanten meines Bruders (German Edition)
fünf Minuten kamen drei Männer durch den Tunnel gelaufen, und dann gleich dahinter Herr Serrano und Marlies. Und dann noch mein Vater.
Sie haben mich mit einer großen Taschenlampe von oben bis unten abgeleuchtet, so wie wenn sie mich nach drei Wochen aus einem Kohlebergwerk herausgeholt hätten. Aber es war gar nichts. Ich konnte aber nichts sprechen und auch nicht selber gehen, weil ich so gezittert habe. Deshalb hat einer von den Feuerwehrleuten mich aus dem Tunnel rausgetragen. Es war gar nicht weit nach draußen, wenn man die richtige Abzweigung kennt. Ich war höchstens dreihundert Meter vom nächsten Ausgang weg gewesen. Der Hund bekam bestimmt eine Wurst und ich habe erstmal zwei Tage lang geschlafen. Am zweiten Tag bin ich in die Küche und habe meine Mutter gefragt, ob Hunde auch Orden bekommen, wenn sie Vermisste finden und ob Hunde, die Vermisste in Tunnels finden, genauso viele Orden bekommen wie Hunde, die Vermisste unter einer Lawine finden. Das wäre aber ungerecht, weil ich glaube, dass es viel schwerer ist, einen Vermissten unter einer Lawine zu finden. Meine Mutter meinte aber, dass ich das gar nicht beurteilen kann, weil ich ja kein Hund bin. Hunde riechen ja viel besser und vielleicht würde ein Hund sagen, dass es das Allerschwerste ist, jemanden in einem Tunnel zu finden. So hatte ich es noch gar nicht gesehen. Deshalb habe ich Mona angerufen. Eine halbe Stunde später ist sie mit ihrer Mutter gekommen, weil ich nicht aus dem Haus darf. Sie haben aber alle meiner Mutter zugestimmt. In der Sache mit den Hunden, meine ich.
Am Abend gab es Gulaschsuppe, keinen Tierpipi-Salat. Meine Mutter glaubte bestimmt, dass Salat jetzt für die nächsten zehn Jahre nicht mehr auf den Speiseplan kam. Dann ging die Fragerei los. Warum ich mich losgerissen habe und so weiter.
Ich sagte meinen Eltern, dass ich Phillipp im Zug gesehen habe und dass er mir gewunken hat. Deshalb bin ich ihm nachgelaufen, aber der Zug war so schnell und dann habe ich mich im Tunnel verlaufen. Ich habe ja nicht gewusst, dass sich die U-Bahntunnel auch noch verzweigen. Das war aber eine Notlüge, weil ich bestimmt auch losgelaufen wäre, wenn mir jemand von den Abzweigungen erzählt hätte.
Phillipp hat fast so ausgesehen wie an dem Abend, als er überfahren worden ist und meine Mutter ihn die Böschung hochgetragen hat. Ich weiß noch ganz genau, welchen Mantel sie angehabt hat. Aber sie hat ihn nicht mehr. Meine Mutter hat den Mantel weggeworfen, obwohl er noch ganz neu war. Das ist mir bei der Befragung wieder eingefallen. Meine Mutter hat den Mantel weggeworfen, weil das Blut meines toten Bruders dran geklebt ist und sie ihn nicht mehr anziehen konnte. Mein Vater hat ihr nach ein paar Wochen einen neuen Mantel gekauft, der fast genauso ausgesehen hat. Aber dann hat sie auch den weggeworfen. Meine Mutter kann seit dem Tag, als mein Bruder Phillipp in ihren Armen gestorben ist, überhaupt keine Mäntel mehr tragen, nur noch Anoraks. Das weiß ich jetzt wieder.
Meine Eltern haben gar nichts gesagt, als ich das mit Phillipp erzählt habe. Sie haben natürlich schon was geredet, aber ich habe es vergessen. Ich meine damit bloß, dass sie nicht gesagt haben:
„Du hast dich bestimmt geirrt, das kann nicht Phillipp gewesen sein.“
Das haben sie nicht gesagt. Meine Mutter hat sogar einmal so geschaut, dass ich gemeint habe, sie schleift mich gleich noch mal in den Tunnel, damit wir Phillipp suchen gehen. Aber bevor sie was fragen konnte, hat ihr mein Vater seine Hand auf den Arm gelegt, damit sie nicht damit anfängt.
Ich würde gerne wissen, wo Phillipp mit der U-Bahn hingefahren ist, wenn er nicht auf dem Weg zu uns gewesen ist. Vielleicht hat er sich vertan. Seit damals sind die U-Bahn-Pläne ja hunderttausendmal umgestellt worden. Deshalb sind Mona und ich schon ein paar Mal zu spät zur Schule gekommen. Nicht viel, aber ein paar Minuten. Zehn oder so. Aber wenn man zehn Minuten zu spät kommt, machen die Lehrer immer einen Riesenaufstand, so wie wenn man mit einer Maschinenpistole reingekommen ist oder eine Woche gar nicht in der Schule war.
„Na, Hoffmann, wo kommen wir denn her?“, hat mich damals mein Geschichtslehrer gefragt. Die anderen Idioten lachen dann immer so blöd und ich bin gleich rot geworden. Nicht viel, aber so, dass man es gesehen hat. Wo soll ich denn um zehn Minuten nach acht schon herkommen? Mein Fuß hat gezuckt vor lauter Aufregung. Normalerweise würde mein System jetzt in den roten Bereich
Weitere Kostenlose Bücher