Die Elementare von Calderon
goldenen Augen die Spuren auf dem Boden. Er duckte sich, blies die Nasenflügel auf und schaute plötzlich wieder auf. Seine Augen funkelten.
Der Krieger erhob sich, um in Richtung Süden Tavis verwundetem Onkel zu folgen.
»Nein!«, schrie Tavi. Er sprang aus seinem Versteck und schleuderte seinen letzten Stein auf den Marat. Und er hatte gut gezielt. Der Stein traf den Krieger an der Wange, und aus der Platzwunde strömte sofort Blut.
Der Marat starrte Tavi mit einem Raubtierblick an und knurrte etwas in einer Sprache, die der Junge nicht verstand. Seine Absicht indes war deutlich zu erkennen, noch ehe er den Glasdolch aus dem Gürtel zog. In seinen Augen loderte wilder Zorn.
Wieder ließ der Marat einen Pfiff ertönen, und der Herdentöter fuhr herum. Der Vogel entdeckte Tavi und stieß diesen Schlachtruf aus, der wie ein pfeifender Teekessel klang und den schon der tote Artgenosse benutzt hatte.
Tavi drehte sich um und rannte los.
Sein ganzes junges Leben lang war er vor größeren und stärkeren Jungen davongelaufen. Bei den meisten Spielen im Wehrhof ging es darum, anderen zu entkommen, und Tavi hatte gelernt, wie er seine geringere Körpergröße und seine Schnelligkeit zu seinen Gunsten einzusetzen hatte. Er preschte durch dichtes Adlerfarndickicht
und schlüpfte durch Labyrinthe aus Dornensträuchern, stürmte durch Stellen mit Windbruch, durch Senken und Büsche.
Der Wind wurde noch stärker und wirbelte alte Kiefernnadeln und Staub in die Luft. Tavi rannte in Richtung Westen, fort von seinem Onkel. Das unheimliche Klagen des Herdentöters und seines Herrchens folgte ihm, doch die Angst beflügelte seine Beine.
Sein Herz donnerte dumpf und schnell wie ein Schmiedehammer. Er wusste, er war auf sich allein gestellt, niemand würde ihm zu Hilfe kommen. Daher musste er sich auf seinen Verstand und seine Erfahrung verlassen. Falls er stolperte oder langsamer wurde, konnten der Marat und der Herdentöter ihn einholen. Inzwischen war es kurz vor Sonnenuntergang, und der Orkan, der sich auf Garados zusammengeballt hatte, zog herab ins Tal. Wenn sich Tavi von dem Marat, vom Sturm oder von der Dunkelheit hier im Freien erwischen lassen würde, war ihm der Tod sicher.
Tavi lief um sein Leben.
6
Bei Sonnenuntergang war Amara immer noch auf freiem Fuß.
Ihr ganzer Körper schmerzte. Der erste, hektische Teil der Flucht hatte sie viel Kraft gekostet, und der zweite Teil, bei dem es etwas ruhiger zuging, wäre ihr nicht gelungen, wenn nicht glücklicherweise ein starker Wind aus Nordosten geweht hätte, genau in die Richtung, in die sie floh. Sie nutzte diese Strömung und sparte damit viel Kraft.
Sie flog niedrig, knapp oberhalb der Baumwipfel, die unter dem Miniaturzyklon, der sie in der Luft hielt, schwankten und tanzten. Durch die niedrige Flughöhe verschaffte ihr das Gelände eine gewisse Deckung, und die Ritter Aeris, die sie zweifellos verfolgten, konnten sie nicht so leicht aufspüren.
In den letzten rostfarbenen Strahlen der Sonne entdeckte sie glitzerndes Wasser, ein gewundenes Band in den wogenden Waldhügeln: den Fluss Gallus. Es kostete sie abermals viel Kraft, Cirrus zu einer sanften Landung zu bringen und sich auf den Beinen zu halten, nachdem die Anspannung des Fluges von ihr abgefallen war. Am liebsten hätte sie sich in einem hohlen Baum verkrochen und eine Woche lang geschlafen.
Stattdessen riss sie den Saum ihres Kleides auf und holte eine kleine glänzende Kupferscheibe hervor.
»Gallus, lieber Fluss«, flüsterte sie und bot ihre letzten Kraftreserven auf, um mit den Elementaren des Wassers zu sprechen. »Nimm diese Münze und bringe deinem Herrn Nachricht von mir.« Sie ließ die Münze fallen, wobei sie das Metall leicht in Drehung versetzte, und das Bildnis des Ersten Fürsten taumelte und blitzte immer wieder in den blutroten Strahlen der untergehenden Sonne auf.
Amara sank am Ufer zu Boden und streckte die Hände aus. Lange Läufe waren nicht so anstrengend wie auch nur eine einzige Stunde Flug - geschweige denn fast ein ganzer Tag. Sie hatte Glück gehabt. Bei anderen Windverhältnissen hätte sie es niemals bis zum Gallus geschafft.
Sie starrte auf ihr bleiches Spiegelbild und zitterte, als sie daran dachte, wie das Wasser an ihren Händen hinauf in Nase und Mund gekrochen war, und vor lauter Angst bekam sie Herzklopfen. Obwohl sie sich dagegen wehrte, konnte sie die Furcht nicht abschütteln. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, das Wasser zu berühren.
Die
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