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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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sich an das Seil zu hängen. Die Frauen ließen zuerst ihre Kinder hinab. Mehrere von ihnen schafften es, unbeholfen über das Latrinendach laufend, sich über dessen Rand in Sicherheit zu bringen. Doch nur wenige Minuten später kamen Gertlers Männer auf den Hof gestürzt und rissen die sich noch auf dem Latrinendach befindlichen Kinder herunter, direkt vor den Augen der verzweifelten Eltern, die sich hilflos aus den Fenstern beugten.
    Nicht nur Polizisten waren an diesem Morgen hierher abkommandiert, auch Kaufmans Feuerwehrleute und jene Männer, die gewöhnlich Mehlsäcke aus den Vorratspeichern der Gettobäckereien austrugen und -fuhren: die sogenannte
Weiße Garde
.
    |261| Ein Gerücht, das auch Adam auf seinem Mauerposten zu Ohren kam, machte geltend, dass allen Feuerwehrleuten, Transport- und Ladearbeitern, die sich bereitgefunden hatten, die Polizei bei ihrem von den Behörden angeordneten blutigen Handwerk zu verstärken, garantiert worden war, dass ihre eigenen Kinder in Sicherheit gebracht würden. Zuweilen kannten Opfer und Täter sogar einander:
    Wo hast du deinen eigenen Sohn gelassen, Shlomo?
, hörte man einen Mann fragen, dessen Kind soeben von fremden Uniformierten vom Dach geholt worden war.
Wie viel Blutgeld hat man dir gezahlt, du Verräter …?
Nach solchen Wortgeplänkeln kam es in der Regel zum Handgemenge. Ein paar Häuserblöcke die Rybna hinunter hatten Gruppen von Männern mit dem Bau von Barrikaden begonnen. Sobald sich die jüdischen Polizisten und Feuerwehrleute zeigten, wurden sie mit einem Steinhagel empfangen –
     
    Gajt awek ajere nachesn, mir weln undsere kinder nischt opgebn …
6
     
    In dieser Phase beschlossen die deutschen Behörden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
    Die Gestapo setzte dieselben Kommandoeinheiten ein wie bei der Räumung der Gettokrankenhäuser. Uniformierte kamen in dichten Formationen die Straßen hinuntergestürmt, so als wollten sie allein durch ihr Erscheinen Angst und Schrecken verbreiten; Lastwagen und Traktoren folgten mit rasselndem Getriebe und heulendem Motor. Kurz darauf waren die Barrikaden umgestoßen, die Einfahrtstore eingeschlagen oder aufgesprengt, und Schützen mit Gewehren im Anschlag kamen durch die Hauseingänge gestürmt.
    Hinter dem Tor war es dem angsterfüllten Hauswart bestenfalls gelungen, die im Haus wohnenden Familien zu überreden, sich aus ihren Wohnungen hinunter auf den Hof zu wagen.
    Während die deutschen Truppführer umherliefen und bellend ihre Befehle erteilten, mühten sich Männer und Frauen ihre wenigen Kinder und Angehörigen in einer Reihe aufzustellen und den inspizierenden |262| Deutschen Gesundheitszeugnisse und Arbeitskarten zu reichen. In manchen Fällen wurden diese von jüdischen Polizisten als einer Art schweigender Eskorte begleitet. Es hieß, dass Dawid Gertler persönlich beim Betreten und Verlassen von Häusern, in denen prominente Personen ihren Wohnsitz hatten, gesichtet worden war.
    Doch bei weitem nicht alle hier eingesetzten Deutschen scherten sich darum, die Arbeitskarten zu kontrollieren oder die überreichten Namenslisten zu konsultieren. Sie urteilten danach, wie jung oder alt oder wie gutgenährt oder unterernährt die angetretenen Juden aussahen. Kinder und ausgezehrte kraftlose Alte wurden schonungslos zur Seite getrieben, um auf die wartenden Wagen geladen zu werden. Unterdessen hatten Gertlers
polizajten
alle Mühe der Welt, die verzweifelten Mütter und Väter daran zu hindern, sich auf die lange Anhängerreihe zu stürzen, um die ihnen weggenommenen Kinder zu befreien. Bei jedem Wagen standen mindestens zwei Posten, die schonungslos schossen, wenn sich jemand zu nähern suchte.
    *
    Gegen fünf Uhr nachmittags haben die deutschen Kommandoeinheiten mit ihren Lastwagen und Anhängern auch die Gnieźnieńska erreicht. Genau wie Adam vorhergesehen hat, machen sie zunächst vor dem Altersheim halt. Von seinem Ausguck beobachtet Adam, wie Männer der Weißen Garde den alten Menschen auf die Wagen helfen. Die meisten der Alten können kaum auf eigenen Beinen gehen und strecken die Arme bittend ihren Henkern entgegen, die sie, über die Schulter geworfen, hinauftragen oder wie Mehlsäcke einander zuwerfen.
    Zu diesem Zeitpunkt hat er sich bereits entschlossen, Lida zu verstecken.
     
    Auf dem Hof gibt es zwei Kohlenkeller. In den einen wurde früher die Kohle durch eine breite eiserne Luke in Höhe des Erdbodens gekippt. Adam vermutet, dass die Deutschen, wenn sie irgendwo nach

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