Die Elenden von Lódz
brandheißem, weißem Licht geworden. Erst später am Nachmittag kriecht ein schmaler Schatten von der langen Reihe Schuppen und Remisen heran, die sich an der verwitterten Außenfront der Mauerwand entlangziehen. In diese schmale Schattenzone flüchten sich die Neuankömmlinge. Am Ende drängen sich so viele an der Mauer, dass der Leiter der Feuerwehr, Herr Kaufman, aus eigenem Antrieb sein kühles Büro verlässt und die Menge durch Schieben und eindringliches Ziehen an unwillig nachgebenden Armen zu bewegen sucht, sich ein wenig zu verteilen.
Niemand aber will sich aus freien Stücken in die sengende Sonne stellen.
Als der Älteste endlich eintrifft, zeigt die Uhr halb fünf, und das Schattenfeld hat sich über den halben Innenhof ausgebreitet. Da die hier Versammelten inzwischen aber derart viele geworden sind, findet nur ein Bruchteil von ihnen im Schatten Platz. Der Rest hat sich entweder zur Giebelwand weiter hinten im Hof zurückgezogen oder ist auf die Dächer der Schuppen und Remisen geklettert. Die auf den Dächern Stehenden werden des Präses und seiner Leibwächter als Erste ansichtig. Beim Anblick des Alten ist es, als gerate die Menge in einen Sog. Er kommt nicht wie üblich, Kopf und Stock trotzig erhoben, sondern mit hängenden Schultern, den Blick zu Boden gerichtet. Im Nu wird es auf dem Hof mucksmäuschenstill. So still, dass selbst das Zwitschern der Vögel in den Bäumen jenseits der Mauer zu hören ist.
Das Podium besteht diesmal nur aus einem wackligen Holztisch. Jemand hat einen Stuhl darauf plaziert, damit der Redner wenigstens |254| einen Kopf über die Menge ragt. Dawid Warszawski erklimmt das improvisierte Rednerpult als Erster. Da die Mikrofone ein Stück entfernt aufgestellt wurden, muss er sich recken, um an sie heranzureichen, was die ganze Zeit den Anschein erweckt, als würde er die Balance verlieren und hinunterstürzen. Dennoch kommt er den Mikrofonen zu nahe, und bei jedem Wort, das er spricht, schwappt das Echo zwischen den Lautsprechern hin und her, als wollte es ihm unablässig in die Rede fallen.
Warszawski sagt, welch Ironie es doch sei, dass ausgerechnet der Präses diesen schweren Entschluss fassen musste. Bei all der Mühe, die der Getto-Älteste Jahr für Jahr aufgebracht hatte für die Erziehung der jüdischen Kinder. (
KINDER!
, hallt es von den Wänden wider.) Am Ende macht er den Versuch, an das Verständnis der Versammelten zu appellieren.
Es herrscht Krieg. Jeden Tag heulen die Luftsirenen über unseren Köpfen. Alle müssen laufen, um Schutz zu suchen. In dieser Situation sind Kinder und Alte nur im Weg. Deshalb ist es besser, wenn sie fortgeschafft werden.
Nach diesen Worten, die unter den Versammelten bloß Unruhe und Nervosität auslösen, steigt der Älteste auf den Tisch und beugt sich zum Mikrofon vor. An seiner Stimme können die Leute nun ebenfalls hören, dass er verändert ist. Verschwunden ist der schrille, leicht hysterische Kommandoton. Langsam folgt ein Satz auf den anderen, mit dumpfem, blechernem Klang, so als bereite ihm das Aussprechen eines jeden Wortes Qualen:
Das Getto wurde von einem entsetzlichen Schlag getroffen. Man verlangt von ihm das Beste, was es besitzt – unsere Kinder und unsere Alten. Mir war es nicht vergönnt, eigene Kinder zu haben, aber ich habe meine besten Jahre unter Kindern verbracht. Niemals habe ich mir vorstellen können, dass ich mit eigenen Händen das Opferlamm zum Altar führen müsste. Doch nun, im Herbst meines Lebens, muss ich meine Hände ausstrecken und bitten:
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Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Gebt mir eure Kinder …!
[…]
Ich hatte das Gefühl, dass uns etwas treffen wird. Und war stets auf der Wacht, um dieses »Etwas« zu verhüten. Doch hatte ich keine Möglichkeit einzugreifen, denn ich wusste nicht, was uns drohte und was uns erwartete.
Dass man unsere Kranken aus den Spitälern wegholte, war für mich gänzlich unvorhersehbar. Glaubt mir. Ich hatte doch selbst Verwandte und Bekannte dort und konnte nichts für sie tun. Ich dachte, damit hätte die Sache ein Ende, und man würde uns nun die Ruhe gewähren, für die ich so hart gearbeitet hatte. Aber das Schicksal hielt anderes in Bereitschaft. Dies also ist das jüdische Los: immer mehr und immer stärker zu leiden – vor allem in Kriegszeiten wie diesen.
Gestern erhielt ich den Befehl, mehr als zwanzigtausend Menschen aus dem Getto zu deportieren; andernfalls, so sagten sie, würden sie es selbst tun. Es stellte
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