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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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das alles sind leere Phrasen. Mir fehlt die Kraft, mit euch zu diskutieren. Wenn die Behörden erst selbst kommen, wird keiner von euch auch nur ein Wort sagen.
    Ich verstehe, was es heißt, ein Glied vom Körper abzuschneiden. Ich habe auf meinen Knien gelegen, habe sie angefleht, aber es hat nichts genützt. Aus Städten, in denen zuvor sieben- bis achttausend Juden wohnten, sind wenig mehr als tausend Juden lebend in unser Getto gekommen. Was ist besser? Was verlangt ihr? Dass wir achtzig- oder neunzigtausend Menschen leben lassen oder stumm zusehen, wie alle zugrunde gehen … Entscheidet selbst. Es ist meine Pflicht, so vielen wie möglich ein Überleben zu sichern. Ich wende mich nicht an die Hitzköpfe unter euch. Ich wende mich an Menschen mit Verstand. Ich habe alles getan und werde weiterhin alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass Gewehre in die Straßen gebracht werden und Blut fließt … Der Beschluss ließ sich nicht abwenden, nur lindern.
    Man braucht das Herz eines Räubers, um das zu verlangen, was ich jetzt von euch verlange. Versetzt euch aber in meine Lage. Denkt logisch und zieht eure eigenen Schlussfolgerungen. Ich kann nicht anders handeln, als ich es tue, weil die Zahl jener Menschen, die ich auf diese Weise retten kann, weit höher ist als der Teil, den ich gehen lassen muss …

    |258|

 
    |259| Zwischen dem Haus Gnieźnieńska zweiundzwanzig und dem vierundzwanzig gibt es eine Öffnung oder einen Hohlraum von wenigen Metern. Es ist, als hätten sich die beiden Gebäude, die hier während all der Jahre standen, stets weiter einander zugeneigt, ohne je ans Ziel zu gelangen. In der Mitte dieser schrumpfenden Öffnung steht eine halbverfallene Ziegelsteinmauer, und auf dieser Mauer steht Adam Rzepin und hält Wache.
    Es ist Sabbat. Ruhetag. Die Fabriktore sind geschlossen.
    Die Holzbrücken, die die getrennten Gettoteile miteinander verbinden und gewöhnlich schwarz vor sich drängenden Leuten sind, die auf die andere Seite hinübergelangen wollen, ragen leer wie Galgen in die Luft. Nirgendwo Verkehr. Das Einzige, was Adam hört, ist das metallische Surren der Fliegen vom Müllabladeplatz hinter ihm. Das Geräusch der sich in die Luft erhebenden Fliegenschwärme, dann wieder Stille; nichts außer seinem eigenen hämmernden Herzschlag.
    Von der Mauerkrone hat er unbegrenzte Sicht auf den gesamten südwestlichen Gettoteil. Er kann bis zur Lutomierska und bis zu der Bretter- und Stacheldrahtmauer an der Wrześnieńska sehen, an der das Altersheim liegt und Richter Jakobsons Gericht.
    Überall an strategisch wichtigen Punkten des Gettos stehen andere Ausguckposten und schicken »Läufer« zwischen sich hin und her, die berichten, was sie gesehen haben.
    Von ihnen erfährt Adam, dass die Aktion begonnen hat.
    *
    Obgleich sie von Anfang an verstanden haben mussten, dass sie es nie schaffen würden, hatte der jüdische Ordnungsdienst zunächst versucht, die gesamte Aktion in eigener Regie durchzuführen.
    |260| Schon im Morgengrauen, als die Sonne noch tief und gedunsen über dem abgewetzten Kopfsteinpflaster der Gettostraßen hing, sperrten Männer von Gertlers Sonderabteilung einige Häuserblöcke in der Rybna ab. Die Hauswarte wurden angewiesen, mit dem Hauptschlüssel voranzugehen und die Türen aller Boden- und Kammerverschläge und auch die jener Wohnungen aufzusperren, die nicht aus freien Stücken geöffnet worden waren.
    Die meisten schienen versucht zu haben, sich in ihren Zimmern zu verbarrikadieren.
    Jüdische
polizajten
trugen schreiende und wild um sich schlagende Frauen und Kinder aus den Wohnungen, während sich die Alten mit krampfhafter Entschlossenheit schweigend an die Türpfosten klammerten, so als wollten sie mit den Wänden verwachsen. Man sah ältere Männer ihre ausgemergelten Spinnenbeine hinter sich unter die Bettroste ziehen, wo sie sich verstecken wollten, oder sie saßen mit Gebetsschal oder Decke überm Kopf da und wiegten sich hin und her.
    Aus den zum Hof gelegenen Wohnungen der Rybna versuchten etwa zehn Frauen durch die Fenster zu fliehen, an Armen und Armbeugen Kinder hängend. Irrsinnig, hysterisch schreiend drohten sie, sich selbst und die Kinder einfach fallen zu lassen, wenn die Polizisten im Raum nur noch einen Schritt in ihre Richtung machten. Zwei Männer – einer stand oben im vierten Stock, der andere auf dem Latrinendach im Hof – hatten aus Laken und Decken ein langes Seil zusammengeknotet, und sie drängten die fliehenden Frauen,

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