Die Elenden von Lódz
der Zufall entscheidet. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die von Frau Herszkowicz erhaltenen Listen einzusehen.
Gertlers zwei
polizajten
ergreifen Chaim Wajsberg und treiben ihn vor sich her in dieselbe Richtung wie die anderen Aussortierten. Hala ist bereits unterwegs zu ihrem Sohn. Doch Samuel kommt ihr zuvor. Mit einem Schrei, den niemand seiner kaputten Lunge zugetraut hätte, wirft er sich auf seine Frau und reißt sie der Länge nach zu Boden.
Nur Jakub Wajsberg steht noch in der Reihe. Verwirrt sieht er seinen Vater auf den Körper der Mutter kriechen, als wollte er jeden Zoll mit seinem eigenen Leib bedecken. Nur wenige Meter entfernt sitzt Adam Rzepin und wiegt den blutigen Kopf seiner Schwester Lida im Schoß.
|268| Am letzten Morgen im Grünen Haus war Rosa Smoleńska wie immer bereits um vier Uhr in der Früh aufgestanden, um das Wasser hereinzutragen, das Chaja Meyer dann in die großen Waschzuber in der Küche goss; und Józef Feldman war wie immer auf seinem Fahrrad erschienen, um den Kohlenkasten aufzufüllen und die Öfen zu heizen. Wie immer: Der Kinder wegen hatten sie alles getan, damit auch dieser letzte Tag wie alle anderen begann. Die Sonne lugte noch nicht über den Horizont, der Himmel aber war bereits blank und durchscheinend blau, und einzelne Schwalben schwirrten auf eine Weise durch die Luft, die anzeigte, dass auch dieser Septembertag warm und sonnig würde.
Am Abend zuvor hatten Direktor Rubin und Kinderarzt Zysman alle in der
świetlica
des Hauses versammelt. Direktor Rubin hatte erklärt, die Behörden haben beschlossen, dass der Aufenthalt im Getto nun zu Ende sei und manche Kinder nach Hause zurückkehren dürften, während andere in »normalen« Kinderheimen außerhalb des Gettos betreut würden. Er hatte gesagt, diejenigen, die anderweitig untergebracht würden, sollten nicht traurig sein. Auch außerhalb der Mauern gebe es eine Welt, hatte er gesagt, die sei größer, unendlich viel größer als jedes Getto.
Und er hatte gelacht. Wohl noch nie hatte man im Grünen Haus so viel Lachen gehört wie an diesem Abend. Die Kinder aber hatten in ihrem Lächeln ernst und still dagestanden. Dann hatte Nataniel gefragt, wer sie aus dem Getto bringen und wie sie fahren würden, mit dem Zug oder womöglich mit der Straßenbahn (alle Kinder hatten die Straßenbahn gesehen, die bereits zu Beginn des Jahres die Deportierten nach Radogoszcz transportiert hatte), und das Lächeln Direktor Rubins war, wenn möglich, noch breiter geworden, und er hatte erwidert, sie würden es morgen erfahren; nun sollten sie erst einmal ihre Sachen zusammenpacken und lediglich das mitnehmen, was sie auf der Reise brauchten, |269| und sie sollten unbedingt ihre allerbeste Kleidung anziehen und nicht vergessen, vor den deutschen Polizisten, wenn sie kamen, um ihnen den Weg zu zeigen, einen Diener oder einen Knicks zu machen.
Einer Dame vom Verwaltungsbüro in der Dworska, einer Frau Goldberg, hatte man die Aufgabe zugedacht, die Kinder zu dem angewiesenen Sammelplatz zu bringen. Frau Goldbergs Lippen waren knallrot geschminkt, und sie trug ein engsitzendes Kostüm, weshalb sie sich nur mit äußerst kleinen Schritten vorwärtsbewegte. Sie blickte die ganze Zeit schnurgeradeaus, als fürchte sie, ihr Blick könnte an etwas hängen bleiben, und wenn sie sprach, geschah es stets ängstlich aus dem Mundwinkel.
Während Frau Goldberg und die beiden Wachtposten, die den Zug eskortieren sollten, draußen warteten, ging Rosa Smoleńska durch die Flure des Grünen Hauses und klatschte in die Hände, und die Kinder stellten sich wie gewohnt in derselben Reihenfolge auf wie bei den Besuchen des Herrn Präses; die Jüngsten ganz vorn und die Älteren in Treppenstufenform hinter ihnen. Punkt sieben, wie angewiesen, marschierten alle Kinder und Kinderbetreuerinnen zum Sammelplatz am Roten Feld ab: Rosa ging an der Spitze des Zuges, zusammen mit den jüngeren Kindern Liba, Sofie und Dawid sowie den Zwillingen Abram und Leon an der Hand; während Chaja Meyer und Malwina Kempel mit den älteren dahinter aufschlossen.
Über die lehmige Fläche verteilt stehen bereits Kinder aus den anderen Marysiner Kinderheimen; und weitere sind unterwegs. Tiefe Reifenspuren in der losen, schlammigen Erde zeigen, welchen Weg die Lastwagen genommen haben. Sie stehen so geparkt, dass die Anhänger, mit denen sie rückwärts hineingefahren waren, gleichsam eine Spitze zu dem Platz bilden, an dem die Kinder und ihre
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