Die Elenden von Lódz
sich die Frage: Sollen wir diese widerwärtige Aufgabe übernehmen oder die Durchführung anderen überlassen? Da uns aber nicht der Gedanke leitete: »Wie viele werden verlorengehen?«, sondern der Gedanke: »Wie viele wird man retten können?«, kamen wir, das heißt ich und meine engsten Mitarbeiter, zu dem Schluss, dass wir die Ausführung dieses Verhängnisses in unsere eigenen Hände nehmen müssen, wie schwer uns das auch fällt. Ich muss diese schwere und blutige Operation selbst durchführen, muss die Glieder amputieren, um den Körper zu retten! Ich muss die Kinder gehen lassen. Tue ich es nicht, müssen womöglich auch andere gehen …
Ich bin heute nicht gekommen, um euch zu trösten; ich bin nicht gekommen, um euch zu beruhigen. Wie ein Räuber bin ich gekommen, um euch die zu nehmen, die ihr am meisten liebt. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um die Behörden zu bewegen, den Beschluss zurückzunehmen. Da das nicht gelang, versuchte ich ihn zu lindern. Wenigstens einen Jahrgang wollte ich retten – Kinder zwischen neun und zehn. Doch man hat nicht nachgegeben. Eins aber ist mir gelungen: die über zehnjährigen Kinder zu retten: Möge euch das in eurem großen Leid ein Trost sein.
Wir haben im Getto zahlreiche Tuberkulosekranke, deren Leben
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nach Tagen, vielleicht nach Wochen zählt. Ich weiß nicht – vielleicht ist es nur ein teuflischer Gedanke, vielleicht auch nicht –, doch kann ich nicht anders, als ihn auszusprechen: »Gebt mir eure Kranken, und an ihrer Stelle wird man Gesunde retten können.« Ich weiß, wie teuer jedem der Kranke ist, der bei ihm daheim liegt. Doch wenn man vor einem Dekret steht, bei dem man abwägen muss, wer gerettet werden kann und wer nicht, muss man dem gesunden Menschenverstand folgen und diejenigen retten, die die besten Aussichten haben zu überleben, und nicht jene, die ohnehin nicht überleben können …
Wir leben in einem Getto. Wir leben in einer solchen Misere, dass wir nicht einmal genug für die Gesunden haben und schon gar nicht für die Kranken. Jeder von uns erhält seinen Kranken auf Kosten der eigenen Gesundheit. Ihr gebt ihnen das wenige Brot, das bisschen Zucker, das ihr entbehren könnt, mit dem Effekt, dass ihr selbst erkrankt. Wäre ich gezwungen zu entscheiden, ob ich die Kranken, die keine Genesungschance haben, opfern und die Gesunden retten will, würde ich mich ohne zu zögern für die Gesunden entscheiden. Deswegen habe ich meine Ärzte beauftragt, die unheilbar Kranken zu übergeben, damit an deren Stelle Gesunde, die leben können und wollen, gerettet werden …
Ich verstehe euch, Mütter, und sehe wohl eure Tränen. Ich fühle auch eure Herzen schlagen, Väter, die ihr morgen früh, nachdem ich eure Kinder genommen habe, zur Arbeit gehen müsst, die Kinder, mit denen ihr erst unlängst gespielt habt. Das alles weiß ich und spüre es. Seit gestern Nachmittag um vier Uhr, als dieser Beschluss bekanntgegeben wurde, bin ich ein gebrochener, gepeinigter Mann. Ich teile eure Ohnmacht und fühle euer Weh; und ich weiß nicht, wie ich all das überleben soll. Ich muss euch ein Geheimnis verraten. Zu Beginn verlangte man 24 000 Opfer von mir, jeden Tag dreitausend Menschen, und das acht Tage lang. Doch gelang es mir durch Verhandlung, die Zahl auf 20 000 zu drücken, vielleicht sogar weniger als das, allerdings unter der Bedingung, dass es Kinder bis zehn Jahre sind. Kinder über zehn Jahre sind sicher. Da die Kinder zusammen mit den Alten nur eine Zahl von ca. 13 000 ergeben, wird man die restliche Menge mit Kranken erreichen müssen.
Es fällt mir schwer zu sprechen. Es fehlt mir die Kraft. Doch um ein
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Letztes muss ich euch bitten: Helft mir, die Aktion durchzuführen! Der Gedanke, dass sie – Gott verhüte es! – die Ausführung in die eigenen Hände nehmen, lässt mich vor Entsetzen erbeben …
Vor euch steht ein vernichteter Mann. Beneidet mich nicht! Dies ist die schwerste Anordnung, die ich je ausführen musste. Ich strecke euch meine zitternden Hände entgegen und bitte: Legt eure Opfer in meine Hände, damit ich weitere Opfer verhindern kann, damit ich 100 000 Juden retten kann.
Das nämlich war, was sie mir versprochen haben: Wenn Sie uns diese Opfer selbst übergeben, werden Sie Ruhe und Frieden haben …
(Rufe aus der Volksmenge:
»Wir können alle gehen«, und:
»Herr Präses, nehmen Sie nicht alle Kinder. Nehmen Sie ein Kind von Familien mit mehreren Kindern!«)
Aber meine Lieben –
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