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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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trennten und sich selbst als Sendboten des Herrn bezeichneten, da sie glaubten, die Einzigen zu sein, die diese Worte erneut zusammenfügen konnten. Damit machten sie sich der Gotteslästerung schuldig, denn nur Gott konnte den Riss kitten, der zwischen Worten und Menschen verlief.
    Dann erzählte Fide Szajn die Geschichte von Sabbatai Zwi aus Smyrna, der sich im 17. Jahrhundert als Messias ausrufen ließ. Als man ihn aus Smyrna, Saloniki und Jerusalem hinausgejagt hatte, fuhr er nach Konstantinopel, um den Sultan abzusetzen. Der Sultan stellte ihn dann vor zwei Alternativen: Entweder er trete zum Islam über, oder er werde hingerichtet. Sabbatai Zwi wählte Ersteres und bewies durch seine Abtrünnigkeit, dass er ein falscher
schofet
war. In seinen Predigten war das Wort noch immer gespalten, und wenn er von seinem Glauben sprach, sprach er im Grunde nur von seiner eigenen Furcht. Solche Männer ließen sich nur zu gern vor den Karren der Sultane spannen.
    Fide Szajn brauchte es nicht laut auszusprechen, es war dennoch offenbar, dass er Chaim Rumkowski als einen selbsternannten Erlöser derselben Sorte betrachtete.
    Ein Mann, der gelernt hatte, die Furcht über seinen Glauben zu stellen.

 
    |289| Nach
di grojse schpere
, wie die Septemberaktion nunmehr genannt wurde, hatte der Älteste aus dem Krankenhaus ausziehen müssen. Stattdessen hatte er seine private Wohnung in einem normalen Mietshaus genommen. Außer über zwei kleine nebeneinanderliegende Zimmer verfügte die neue, in der Łagiewnicka 61 gelegene Wohnung auch über eine schmale Kammer, die gewissermaßen einen Gang zwischen den Zimmern und der Küche bildete. An der Längsseite des Raums breitete sich ein hohes Fenster aus, das auf einen geschlossenen Innenhof hinausführte, auf dem sich allerlei Gerümpel und Abfall häuften und sämtliche Tauben des Gettos zu brüten schienen.
    Doch von
Zimmern
sprach man nicht, wenn man die Räume des Präses meinte: Man sagte
die Stadtwohnung
.
    Zur Stadtwohnung gehörte auch ein Verschlag am anderen Ende des Treppenhauses, den er mit einem separaten Schlüssel öffnete und den er sein Büro nannte, in dem er sich indes nur selten aufhielt. Den größten Teil seiner Stunden und Tage verbrachte der Älteste wie zuvor in seinem Sekretariat am Bałucki Rynek oder draußen in seiner Marysiner Residenz.
    Zwei Zimmer
. In dem einen schlief der Präses, und erwartungsgemäß hätte auch Frau Regina darin schlafen sollen. Frau Regina aber schlief selten dort. Seit ihr geliebter Bruder verschwunden war, hielt sie sich entweder in ihrer »Wohnung« in der Zgierska auf, wohin niemand sonst Zugang hatte, oder sie saß blass und apathisch am Schreibtisch neben dem Fenster des
anderen
Zimmers, das alle Frau Reginas Zimmer nannten, obgleich sie sich weigerte, irgendetwas von ihren Sachen dorthin zu schaffen oder sich auch nur in das Bett zu legen, das der Älteste schließlich widerstrebend darin aufstellen ließ. Meist blieb die Tür von innen verschlossen. Wenn Frau Regina ab und an herauskam, war es, als betrete sie eine Bühne. Ein breites Lächeln lag auf ihrem Gesicht, |290| und sie fingerte zerstreut an diesem und jenem. Sprach sie jemand an – zumeist die Haushälterin, Frau Koszmar –, blickte sie die entsprechende Person mit einer Miene an, die so wenig gequält wie möglich aussehen sollte, oder sie lachte nur gekünstelt.
    Dann aber gab es also dieses
dritte
Zimmer, irgendwo zwischen dem des Ältesten und Reginas Zimmer gelegen. Auch wenn sich Stanisław nie richtig sicher war, ob dieses Zimmer tatsächlich ein richtiges Zimmer war oder ob es sozusagen erst
dazu wurde
, wenn der Herr Präses es so wünschte.
    Dann und wann nahm der Älteste ihn mit dorthin. Stanisław begriff, dass das, was von außen wie ein enger Gang wirkte, stattdessen ein ziemlich großes Gelass war.
    Groß und eng zugleich: vollgepfropft mit Unmengen kaputter alter Möbel, die nie zu etwas benutzt wurden. Und dann dieses Fenster, durch das etwas hereinfiel, was hätte Licht sein können, wenn die Scheibe nicht von Schmutz und Schlamm gänzlich zugesetzt gewesen wäre. Nicht einmal richtige Luft gab es hier drinnen. Staszek versuchte zu atmen, doch bei jedem Atemzug hatte er das Gefühl, als stopfe man ihm einen übelriechenden Wollstrumpf in die Kehle. Er schloss die Augen, und das Einzige, was neben dem Gestank noch übrigblieb, war das Gurren und spröde Flügelrascheln der Tauben, die in dem verglasten Hof vorüberstürzten und wieder

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