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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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auf
königlicher Einweihungsfahrt
durchs Getto befanden, war ein Krankenhaus, das zur Uniformschneiderei geworden war; ein Kinderkrankenhaus, das man zum Ausstellungslokal umfunktioniert hatte; ein nunmehr versperrtes (und sorgfältig bewachtes) Kohlenlager; ein Gemüsemarkt; und natürlich
resorty, jede Menge resorty
. –
Hier!
, sagte der Heerführer und zeigte mit dem Finger, und vor ihnen ward ein großer Platz mit Schlagbäumen und Zäunen, mit Schilderhäuschen und Polizisten in hohen, blanken Stiefeln, mit Mützen und gelb-weiß gestreiften Armbinden, auf denen der Davidstern leuchtete.
Hier
, sagte der Präses,
hier sind dreizehntausend Männer und Frauen Tag für Tag ausschließlich damit beschäftigt, sich um meine und des Gettos Angelegenheiten zu kümmern!
    Stanisław hätte gern gewollt, dass der Präses ihn nach seinen Brüdern fragte, nach seiner Mutter, ja sogar nach Rosa Smoleńska und Direktor Rubin aus dem Grünen Haus; er hätte über wen oder was auch immer reden wollen, außer gerade über das, was der Präses zeigte und was er heraufbefahl.
    »Und was geschieht mit all denen im Getto, die sterben sollen?«, fragte er schließlich, hauptsächlich um etwas zu sagen. Doch darauf gab der Präses keine Antwort. Mit dem Stock befahl er eine weitere Ansammlung Fabriken aus der langen Reihe zerfallender Gebäude herauf und sagte,
all das wird eines schönen Tages deins sein.
    Am Ende fasste sich Staszek ein Herz.
    »Bestimmst du, wer sterben soll? – Fräulein Smoleńska sagt, die Behörden bestimmen, wer sterben soll!«
    |297| Der Älteste aber weigerte sich weiter beharrlich zu antworten. Er saß so tief eingesunken in dem Sitz des Wagens, dass die Kniescheiben sein Kinn berührten. Auf der Straße, die sie entlangfuhren, hatten sich Grüppchen von Leuten gebildet, Polizisten und gewöhnliche Arbeiter bunt durcheinander. Manche lächelten und winkten; andere versuchten den Wagen zu erklimmen, wieder andere rannten ihm gänzlich unmotiviert hinterher. Dem Präses schien die Gunst der Menge nicht unangenehm zu sein, im Gegenteil, er wurde fast ausgelassen. Beugte sich zum Kutscher vor und schrie:
Schneller, schneller
; und dann schrie er auch Staszek zu:
    Willst du die Zügel halten?
    Doch die Zügel, die der Älteste ihm anbot, waren keine richtigen Zügel, sondern nur ein Vorwand, um ihn auf den Schoß zu nehmen; und da saß er nun auf einem steifen, unbequemen Präsesschoß und zog und zerrte und sagte
brrrr
und
looos
und anderes, was ihm einfiel, um die Aufmerksamkeit des königlichen Heerführers möglichst abzulenken, bis der Herr Präses dann seinen mächtigen Körper an den seinen presste und ihm wie eine Lokomotive direkt in den Nacken keuchte:
     
    Ty jesteś moim synem, moim drogim synem –
8
    *
    Es endete stets damit, dass sie das Zimmer mit dem schmutzigen Licht und den Tauben aufsuchten, in dem die Luft so dick war, dass er meinte, sie säße ihm wie ein Wollstrumpf im Halse fest; das aber geschah erst, wenn alle anderen in der Wohnung zu Bett gegangen waren.
    Der Älteste hatte Frau Koszmar gebeten, alles vorzubereiten. Auf den Servierplatten lagen gefaltete Käsescheiben und fetter Schinken, gefüllt mit Radieschenstücken und kleinen Sträußchen Petersilie und Dill. Zwischen zwei glänzenden Zitronenscheiben dünngeschnittene Stücke Pökelfleisch, die der Älteste mit der Messerspitze aufspießte und sie dem SOHN hinhielt, um zu sehen wie dieser, einem Fisch gleich, mit dem |298| Mund danach schnappte. Der Älteste mochte es, Stanisław essen zu sehen, und während Stanisław aß, war es, als könnte der Älteste sich selbst nicht mehr beherrschen, er stopfte seine Finger in ein Glas mit süßem, schwarzem Pflaumenmus und forderte Stanisław auf, ihm das Mus von den Fingern zu saugen und zu schlecken, wie eine Ziege (
zig
, sagte der Älteste und sog und schmatzte selbst ziegengleich mit der Zunge am Gaumen,
zig, zig, zigerli …!
); und der füllige Geschmack reifer Pflaumen war so überwältigend, dass ihm fast übel wurde, doch die fremden Präsesfinger wollten tief, noch tiefer hinein, so tief, dass er fast erstickte und gezwungen war, fest nach dem Arm des Präses zu greifen, damit der aufhörte. Was den Herrn Präses keineswegs zu stören schien. Er lächelte nur, ein Lächeln voller Befriedigung und Ekel, gleich einem Chirurgen, der soeben eine schwierige, anstrengende Operation eingeleitet hatte.
    Es geschah aber auch, dass der Älteste erneut hereinkam, nachdem sie beide

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