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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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von der Nässe so aufgelöst waren, dass er als Einziges dicke, schwere, in Strümpfen steckende Füße sah, die im Schlamm umherplatschten und ständig danebentraten; und die Frauen redeten aufgewühlt durcheinander von den Kindern, die sie hergeben sollten. Und über das Essen. Wie sie leben sollten, wenn sie nichts zu essen hätten. Er fürchtete sich sehr, und da die Angst überall war, wurde alles, was er ansah und anfasste, ebenfalls zu Angst. Die Busse, die auf sie warteten, wurden zu nervösen bösartigen Tieren, bebend vor verhaltenem Zorn unter der klappernden Blechabdeckung des Motorraums. Er versuchte den Blick direkt vor sich zu richten, damit ihm nicht übel würde, so wie es ihm seine Mutter geraten hatte, doch in ihm und vor ihm war alles schwarz. Er hatte sich in die Hosen gepinkelt. Sie saßen in einem Bus, in einem anderen oder immer noch demselben, und der Bus mit seinem warmweichen öligen Motorgeräusch schaukelte so intensiv, dass ihm war, als kneteten ihn unsichtbare Hände. Da hatte er es nicht länger unterdrücken können. Und die bepinkelten nassen Sachen waren ihm dann am Unterleib festgefroren. Er klapperte mit den Zähnen, obwohl ihn seine Mutter fest an sich gepresst hielt. Und er erinnerte sich, dass seine Mutter gesagt hatte:
Ich wünschte, ich hätte eine Decke, um ihn zu wärmen …
    Doch irgendwo zwischen dem intensiven Wunsch nach einer Decke und dem ebenso plötzlichen wie unerwarteten Auftauchen einer solchen (rasche, nervöse Hände, die ihn darin mehrfach dick einwickelten) war die Mutter einfach verschwunden.
    Er sah sie nie wieder.
    *
    Unter denen, die an jenem Morgen, als die Busse ankamen, eine Decke um seinen kalten Körper geschlungen hatten, waren Malwina Kempel und die Kinderschwester Rosa Smoleńska aus dem Grünen Haus. Doch das wusste er damals nicht. Es sollte in der Tat mehrere Monate dauern, bis er begriff, dass er nicht mehr in Aleksandrów war, sondern im
Litzmannstadt
|294|
Getto.
(Er schrieb in derselben weichgerundeten Handschrift, die Fräulein Smoleńska allen Kindern beibrachte:
    Litz-mann-stadt Get-to –)
    Anfangs waren die deportierten Frauen in einem Gebäude untergebracht, das Kino Marysin genannt wurde, doch das keineswegs ein Filmtheater war, sondern mehr ein großes Silo mit zugigen Holzwänden, die nach fauligen Kartoffeln und Erde rochen. Hier saß er, eingewickelt in die Decke, um den Hals die Marke mit der Transportnummer, ohne anderes Essen als ein paar trockene Brotscheiben und die Suppe, die jeden Tag in großen, scheppernden Kesseln gebracht wurde und beißend und eklig schmeckte wie altes Wischwasser. Nach einer Woche kam dann sein
Wohltäter
Mosze Karo zusammen mit einer Frau in frischgebügelter blauer Kinderschwesterntracht und las eine Namensliste vor, und die Kinder, deren Namen genannt wurden, durften aufstehen und gehen.
    Also hatte er sich schon im Getto befunden, als Rosa kam, um ihn zu holen?
    Im Get-to Litz-mann-stadt.
    Fräulein Smoleńska nickte.
    Aber was
war
das denn, dieses Getto?
    Fräulein Smoleńska konnte keine Antwort darauf geben. Das Getto war, was dort
draußen
lag. Er selbst befand sich jetzt hier
drinnen
. Gerettet, wie Fräulein Smoleńska es ausdrückte.
    Gab es auch Stahlhelme im Getto?
    Er hatte ihr zuvor erzählt, wie sich alle Juden auf dem Platz vor der katholischen Kirche aufstellen mussten, von dem Regen, der es unmöglich machte, zu sehen, wie viele sie waren; und wie die Stahlhelme dann herumgingen und auf alle einschlugen, die sie zuvor zusammengetrieben hatten, um sie nun wieder zu trennen. Er hatte Angst vor diesen Stahlhelmen, sagte er; und als er das sagte, machte Fräulein Smoleńska ein Gesicht wie immer dann, wenn ihr die Fragen der Kinder zu nahegingen oder sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Ihr Blick wurde flach, und ihre kleinen kräftigen Hände hatten plötzlich eine Unmenge zu tun.
    Die Deutschen sind hier, meistens aber bleiben sie draußen. Wenn man nichts Schlechtes tut, kommen sie nicht wieder.
     
    |295| Kommen sie
nie
mehr wieder?
    Wenn der Krieg bald zu Ende geht, kommen sie nicht mehr.
    Wann geht der Krieg zu Ende?
    Auf diese Frage aber konnte auch Rosa Smoleńska nicht antworten.

|296| Aber es gab ein Draußen, und das sah so aus, wie der Herr Präses bestimmte, dass es aussehen sollte. Der Heerführer erhob sich in seinem königlichen Wagen und zeigte auf etwas, und das, worauf er zeigte,
es ward
. Was auf diese Weise vor den beiden hochschnellte, als sie sich

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