Die Elenden von Lódz
aufflogen; dann war da diese aggressive, einschmeichelnde Stimme des Vaters, der sich herabbeugte und zu ihm sprach, mit demselben üblen Atem wie der der Möbel: eine seltsame Mischung aus Taubenkot, moderndem Holz, altem, festsitzendem Tabakrauch und dem besonderen Bohnerwachs, mit dem Frau Koszmar regelmäßig alle Schranktüren und Stuhllehnen wienerte:
Das ist ein Ort nur für dich und mich, Staszek; ein heiliger Ort: da müssen wir es uns auch bequem machen!
|291| Alle sagten, dass er jetzt ein Rumkowski sei. Prinzessin Helena sagte es und Herr Tausendgeld und Fräulein Fuchs und der Schlüsselmann und Fide Szajn, der sich pünktlich jeden Tag mit hungerblankem Blick einfand. Ebenso der Mann, den alle seinen Wohltäter nannten, Herr Mosze Karo.
Nichts aber konnte ihn dazu bringen, sich selbst als einen Rumkowski zu sehen. In seinen Gedanken hatte er immer denselben Namen – Stanisław Stein –, auch wenn er sich nicht mehr sehr gut erinnerte, wie seine richtige Mutter ausgesehen hatte. Nur dass sie ihr Haar in zwei langen Zöpfen trug und dass diese Zöpfe so fest geflochten waren, dass man von oben direkt auf die weiße Haut am Haarboden blickte. So war es gewesen, als sie ihn zwang, in seiner Jacke gerade und reglos vor ihr zu stehen, damit sie den gelben Davidstern an seiner Brust festnähen konnte. Anschließend musste er sich umdrehen, und dann nähte sie ihm einen ebensolchen Stern auf den Rücken. Er erinnerte sich, wie ihr Haar roch. Frisch und weich, mit einem warmen, würzigen Duft, der zu ihr gehörte. Niemand sonst roch wie sie.
In der Familie gab es sieben Kinder, und alle sollten Sterne bekommen.
Im Grünen Haus hatten sie ihn ständig gefragt, woran er sich erinnerte, aus der Zeit, bevor er ins Getto gekommen war, aber darauf konnte er nichts erwidern. Es war, als würde die Anstrengung, an etwas zurückzudenken, all das auslöschen, was trotz allem noch zum Erinnern da war.
Die Deutschen. An
sie
erinnerte er sich. Und an die Scham; wie er einem Hund gleich an den ersten Fahrzeugen der Kolonne entlanggeschwänzelt war und gelacht hatte über das herrliche Blitzen im matten Panzerstahl und in den Helmen der Schützen, und wie Krzysztof Kohlman, |292| der Kantor der Synagoge, ihn beim Genick gepackt und ihn mit einem Klaps auf den Hintern heimgeschickt hatte.
Anschließend hatten die Deutschen den Kantor in der großen Kastanie vor der katholischen Kirche hochgezogen, dem Baum, dessen Borke all die Jahre abgepult und abgekratzt worden war, so dass das nackte weiße Holz hervorschimmerte, und zuerst hatte er geglaubt, es wäre zur Strafe geschehen, weil Herr Kohlman so böse zu ihm gewesen war. Als Frau Kohlman herauskam und die Uniformierten anflehte, sie möchten ihren Mann vom Baum herunterlassen, gingen sie stattdessen in den Laden und kehrten mit Hammer und Nägeln zurück. Sie stellten eine Leiter an den Baum; einer von ihnen stieg hinauf und band Herrn Kohlmans Arme am Baumstamm fest, bog die Finger auf, so dass er die Nägel quer durch die Handflächen schlagen konnte. Dann ließen sie ihn dort hängen.
Die ganze Zeit über hörte er seine Mutter rufen, mal direkt heraus, mal heiser flüsternd:
Meine Kinder sind Christen, meine Kinder sind Christen, meine Kinder sind Christen –
Warum sagte sie das? Sämtliche Juden des Dorfes hatte man auf der großen Wiese vor der Kirche zusammengetrieben, doch das Kirchentor war geschlossen, ebenso wie die Friedhofspforte in der Mauer; und ein feiner kalter Regen fiel, der alles, was zuvor fester Boden war, in dicken, zähflüssigen Schlamm verwandelte. Überall waren Deutsche unterwegs. Sie steckten in breiten schwarzen Uniformmänteln, und man konnte den Regen als Tröpfchen auf dem Uniformstoff, den Helmen und den über ihrer Schulter hängenden Gewehren glänzen sehen. Ab und an machte einer von ihnen einen Schritt nach vorn, riss einen oder ein paar Männer aus dem Haufen und prügelte mit dem Gewehrkolben oder den bloßen Fäusten auf sie ein.
Selbst als die Männer am Boden lagen, schlugen sie weiter.
Und als sich die Männer nicht mehr rühren konnten, schleppten sie sie zum hinteren Teil der Friedhofsmauer, von wo Stunde um Stunde Schüsse widerhallten.
Erst gegen Mitternacht bekam der Frauenpulk den Befehl, sich in Bewegung zu setzen.
|293| Blanke Stahlhelme und Ledermäntel schrien
schnell
und
raus
, und der klagende Frauenchor begann erneut zu weinen und zu schreien, und er selbst stolperte zwischen Leibern, die
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