Die Elenden von Lódz
ein
zetl
auf seinen Namen ausgestellt und er an einen Ort mit der Bezeichnung
optgesamt
überführt worden wäre, an dem sich tausend Juden aufhielten, die zu schonen die Behörden für gut befunden hatten. Doch dort angekommen, und auch viel später noch, verging kein Tag, an dem er nicht an die Frau dachte, die sie hatten zurücklassen müssen. Als Name und Erinnerung blieb sie seine große Plage. Vielleicht, so sagte er zu dem jungen Herrn Rumkowski, war sie über den Draht zurückgeflogen, denselben Weg, den sie einst gekommen war, und vielleicht würde sie eines Tages zurückkehren, wenn die Juden aufs Neue
dem schojfer
bliesen. Dann, wenn nicht schon vorher, würde sich zeigen, dass der Herr, trotz aller gegenteiligen Anzeichen, das Volk Israel noch nicht verlassen hatte.
Fide Szajn war eine trotzige Seele. Gewiss hatte er sich die Haare schneiden und rasieren lassen, da die Kripo den Befehl erteilt hatte, jeden zu verhaften, der es wagte, sich in religiöser Aufmachung zu zeigen. Doch er beharrte darauf, seinen langen Mantel und den großen schwarzen Hut zu tragen. Der Hut sah lustig aus auf dem langen, abgezehrten, glattrasierten Kopf. Auch sein Körper sah lustig aus, als wäre er mehrere Nummern zu groß für die Kleidung, die er trug. Die Hose reichte ihm nur bis zu den Waden, und die Ärmel des engen Jacketts ließen mehrere Zentimeter der dünnen Unterarme unbedeckt.
Sein Gesicht war knochig und bleich, und sein Blick irrte unablässig umher, als könnte er nicht rasch genug dorthin gelangen, wohin er wollte. Im Unterschied zu den Blicken aller anderen schien der seine keine Minute länger als notwendig auf dem jungen Herrn Rumkowski verweilen zu wollen. In Fide Szajns eigenem Tora-Exemplar stand auf der einen Seite der Text auf Polnisch, auf der anderen Seite auf Hebräisch. Er zwang Staszek, die linke Seite mit der Hand abzudecken und das, was auf der rechten stand, zu lesen und zu erläutern. War auch nur |287| das kleinste hebräische Wort falsch oder konnte sich Staszek nicht an die Worte erinnern, die er soeben gelesen hatte, versetzte ihm Fide Szajn mit der Handfläche einen Schlag in den Nacken.
Dass es Rumkowskis eigener Sohn war, der da als
talmid
vor ihm saß, kümmerte ihn nicht im Geringsten. Das Wichtigste war und blieb das Wort.
Fide Szajn fand sich außer am Sabbat täglich im Haus ein und begann seine Unterrichtsstunden stets mit einer Mahlzeit. Womöglich noch mehr als die alten Bücher, die er beharrlich mit sich herumschleppte, würdigte er das Essen, das ihm die Haushälterin des Judenältesten vorsetzte, und er aß stets unter absolutem Schweigen, als erforderte jeder einzelne Brösel seine totale Aufmerksamkeit.
Nach der Mahlzeit nahm der Unterricht seinen Anfang.
Fide Szajn ging gründlich auf den Ablauf des Gottesdienstes ein, wie die Tora-Lesung zu erfolgen hatte und wie man sich die ausgewählten Textstellen am besten einprägte, damit der heilige Text aus seiner eigenen göttlichen Kraft zu strömen begann. Besondere Sorgfalt verwendete Fide Szajn darauf, Staszek Hebräisch beizubringen. Jeden Buchstaben des Alphabets ging er gründlich durch und erklärte, warum dieser so aussah, wie er es tat, erklärte auch den göttlichen Ursprung eines jeden Wortes. Ein einziges Wort konnte zu einer Vorlesung führen, die den ganzen Nachmittag füllte.
Hilf mir, es zu erklären
, sagte Fide Szajn beispielsweise häufig (er drückte sich oft so aus, als benötige er und nicht Staszek Hilfe bei der Lösung eines Problems);
hilf mir zu erklären, warum die Wörter für Furcht und Glauben denselben Ursprung haben.
Konnte Staszek darauf nicht antworten, konterte Fide Szajn, indem er eine Geschichte erzählte. Als Jakob nach dem Erwachen aus seinem langen Schlaf in Beer Sheva die über den Tempelplatz hinausreichende Himmelsleiter fand, wurde er von Furcht ergriffen, weil der Ort, an dem er sich zur Ruhe niedergelegt hatte, urplötzlich zu einem ganz anderen geworden war.
|288|
»Gewiss ist der Herr an diesem Ort –
wie heilig ist diese Stätte …«
Und er hieß die Stätte Beth-El, Gottes Ort.
So spricht Rabbi Ezrael in Rabbi Ben Zimras Namen:
Zu lernen, Furcht zu spüren, heißt, das wahre Wesen Gottes kennenzulernen. Die Furcht hat Gott uns eingegeben, damit wir nicht nach ihm suchen, nach seinem enthüllten Namen oder seinem Ursprung.
Das war eins von Fide Szajns Lieblingsthemen. Es gab falsche Propheten, die die Worte
Glauben
und
Furcht
voneinander
Weitere Kostenlose Bücher