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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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1944:
     
    Der Präses veranstaltete heute um 10 Uhr vormittags im ehemaligen Präventorium an der Hanseatenstraße 55 die Bar-Mizwah-Feier seines Adoptivsohnes Stanisław Stein. Eingeladen waren etwa dreißig dem Ältesten nahestehende Personen. Als der junge Mann den Text aus den Propheten vorlas, tat er das auf Sephardisch. In dem Jahr seit der Adoption hatte der Älteste dem Jungen eine umfassende jüdische Erziehung angedeihen lassen.
    Die Rede bei dem einfachen Empfang hielt Mosze Karo.
    An Damen waren wie stets Frau Regina Rumkowska, Frau Helena Rumkowska, Frau [Aron] Jakubowicz und Fräulein [Dora] Fuchs anwesend. Trotz der sparsam gedeckten Tafel gelang es dem Präses, unter seinen Gästen eine vertrauliche herzliche Atmosphäre zu erzeugen.
     
    Hier ist das Bild –
    In der Mitte des Fotos steht ein zwölf- oder dreizehnjähriger Junge mit
jarmulke
auf dem Kopf und einer Kerze in der Hand. Er ist in einen offenbar neugeschneiderten Anzug gekleidet, der zumindest eine, wenn nicht gar mehrere Nummern zu groß ist, mit locker sitzenden Schultern und über beide Handgelenke fallenden Ärmeln. Rechts von ihm steht ein älterer Mann mit dickem, zurückgestrichenem weißem Haar, zerfurchtem Gesicht und einer Brille mit runden Gläsern. Die Brille muss einen Stoß erhalten haben, oder sie ist nur über den Nasenrücken heruntergeglitten, infolge seiner unbeholfenen Bewegung, als er die Hand zu einer segnenden Geste über den Kopf des Sohnes zu heben sucht. Links von dem Jungen steht eine jüngere Frau, von kleinem Wuchs, doch mit durchgedrücktem Rücken und nach hinten gereckten Schultern, |282| als wäre es möglich, für das Bild ein oder ein paar Zentimeter zu wachsen. Trotz des Lächelns, mit dem sie den Fotografen zu blenden versucht, wirkt ihr Gesicht abgehärmt und angegriffen, die Haut zwischen Nasenwurzel und dem vorstehenden Wangenbein bedeckt eine Flechte oder Schwellung, sofern es nicht nur ein Schattenphänomen ist, entstanden aufgrund der starken Beleuchtung, die die Szene im Augenblick der Aufnahme erhellt.
    Nur der Junge scheint sich nicht beirren zu lassen. Unbekümmert über die unbeholfenen Bewegungen des Vaters und die steife Haltung der Mutter, über alles, was ihm geschehen ist und noch geschehen wird, blickt er nur neugierig in die Kamera. Als wäre das Einzige, was ihn jetzt interessiert,
wie es eigentlich zugeht –
wie Ereignisse und Dinge, die andernfalls kaum existieren würden, plötzlich wirklich werden und für ewig bleiben.
     
    Es existiert auch ein anderes Bild. Es ist die Kopie eines Schirmbilds, das der Älteste hat machen lassen, um sicherzugehen, dass das Kind, das er zu adoptieren gedachte, »kerngesund« war.
    Das hier ist das einzige wirkliche Bild von dir, das du jemals sehen wirst
, hatte Professor Weisskopf zu dem Jungen gesagt, als das Licht an der Decke erlosch.
    Im Untersuchungszimmer wurde es pechschwarz, und als hätte es genau auf diese Gelegenheit gewartet, begann sich das seltsame kastenähnliche Ding, das sie an seiner Brust befestigt hatten, langsam zu Kinn und Kopf hinauf und anschließend wieder hinab zu bewegen. Gleichzeitig war ein schwaches Rasseln zu hören.
    Dann wurde es still, und kurze Zeit später trat Professor Weisskopf wieder hinter seinem Vorhang hervor. In der Hand hielt er die Platte, erpicht darauf, sie ihm zu zeigen.
    Das Bild glich nichts von dem, was der Junge bisher gesehen hatte. Aus einem großen glänzenden Dunkel stiegen helle Halbbögen in rhythmischem Muster auf. Es wirkte wie ein Tempel mit hohen Säulen, der auf blanken luftigen Wolken hoch oben unter einem dunklen Himmel schwebte. Trugen alle einen solchen Lichttempel in sich? Oder sah es nur in ihm so aus, weil er (wie der Präses so oft sagte) von besonderer Art war?
    |283| Das war eine Frage, die ihn zu dieser Zeit viel beschäftigte.
    Was unterscheidet einen Menschen von den anderen? Wie wird man ein
Auserwählter
?
     
    Das hier lehrte man ihn und alle anderen Schulkinder zu jener Zeit –
    Als Wilhelm Röntgen im Herbst 1889 seine ersten Experimente durchführte mit dem, was man damals Kathodenstrahlen nannte, umhüllte er die Röhre und den Apparat, der die Strahlen im Inneren der Röhre erzeugte, mit einem Stück schwarzer Pappe; anschließend verschloss er alle Ausgänge. Trotz der totalen Abdichtung der Röhre zeigte sich im selben Augenblick ein stark flimmerndes Licht auf einer Platte, die er mehrere Meter entfernt aufgestellt hatte.
    Obgleich er diese Platte noch

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