Die Elenden von Lódz
weiter fortrückte, nahm das Licht nicht ab. Es begann sich auch nicht stückweise zu verlieren, wie es das Licht anderer Lichtquellen tat.
Aus diesem Experiment zog er die Schlussfolgerung, dass das neue, von ihm entdeckte Licht auch feste Gegenstände zu durchdringen vermochte. Je geringer die Dichte des Gegenstandes war, desto leichter konnten ihn die Strahlen durchdringen. Beispielsweise schafften sie mit Leichtigkeit ein tausendseitiges Buch, einen Stapel Spielkarten, Holz oder Hartgummi; bei härteren Substanzen wie Blei oder Knochen gelang es jedoch nicht.
Die Seele selbst sieht man nicht
, schrieb Röntgen,
doch hält man die Hand vor den Schirm, zeigt sich in der Schattenzeichnung deutlich jeder Knochen des Fingergelenks mit dem umgebenden Gewebe als schwache Kontur.
Als Beweis fertigte er eine Anzahl fotografischer Platten an. Eine von ihnen zeigte die Knochen in der ringgeschmückten linken Hand seiner Frau.
Im Juni 1945, ein halbes Jahr nach der Befreiung Litzmannstadts durch die Rote Armee, wurden im Keller unter dem ehemaligen Präventorium in der Łagiewnicka 55 7 Brustaufnahmen mehrerer Tausend Kinder gefunden , |284| die während der
szpera
-Aktion im September 1942 deportiert und von den Nazis ermordet worden waren.
Die Schirmbildnegative fand man gestapelt in verschnürten Bündeln, jedes ein paar Dezimeter hoch. Auf etlichen der Aufnahmen sind deutlich dunkle, mit Flüssigkeit gefüllte Partien auszumachen, die bei einem jungen Menschen zu einem gekrümmten Gang mit auffällig vorgeschobener oder hochgezogner Schulterpartie führen. Auf anderen Aufnahmen sind innerhalb der weißschimmernden Knochenhülle dunklere Schraffierungen auszumachen, klare Anzeichen einer fortgeschritteneren Tuberkulose. Doch die Aufnahmen sind allesamt anonym. Sollte es Namen, Geburtsangaben oder Registernummern gegeben haben, denen man die Negative hätte zuordnen können, so waren sie seit langem verlorengegangen.
Das Einzige, was die Aufnahmen heute identifiziert – sie im Nachhinein mit einem Körper, einem Namen, einem Gesicht versieht –, ist die Schädigung selbst.
|285| Außer Mosze Karo war auch Fide Szajn beauftragt, sich um die Ausbildung des jungen Herrn Rumkowski zu kümmern. Vom Judenältesten hieß es, dass er große Stücke auf die Chassiden des Gettos hielt, und Fide Szajn galt allgemein als eine Leuchte der Gelehrsamkeit. Auf keinen Fall war zu befürchten, dass er Schaden anrichtete.
Fide Szajn war es gewesen, der bei den Rundwanderungen von Rebbe Gutesfeld mit der gelähmten Mara das vordere Ende der Bahre getragen hatte. Dem Jungen Staszek, der noch nicht sonderlich viel vom Getto gesehen hatte, erzählte Szajn in endlosen Details, wie die drei von Haus zu Haus flohen. Bei jedem Wind und Wetter und zu allen Tageszeiten hatten sie aufbrechen müssen. Nachts hatten sie Schutz im alten Filmtheater Bajka gesucht, das jetzt ein Gebetshaus war, oder in der Synagoge auf der Jakuba, wo ehemals die Talmud-Tora-Schule gelegen hatte und wo die wenigen Torarollen und Gebetbücher, die man vor den Mordbränden der Nazis hatte retten können, in aller Heimlichkeit aufbewahrt wurden. Auch im Kellerlager unter der Schuhfabrik an der Ecke Towiańskiego, Brzezińska hatten sie eine Freistatt gefunden, weil der
kierownik
, der den Laden dort schmiss, ein tiefgläubiger Jude war. Ein paar Tage hatten sie in den Ruinen einer verfallenen Mietskaserne in der Smugowa verbracht. Laut Behördendekret sollte das Wohngebiet den arischen Teilen Litzmannstadts zugeschlagen werden, die bisherigen Bewohner hatten ausziehen müssen, und das Abrisskommando war bereits zugange. Das Haus aber stand noch, selbst wenn nur die Deckenträger und Teile der Fassade übrig waren. Ununterbrochen regnete es auf sie herab, als sie da unterm Kopfteil eines Bettes und ein paar alten Polstermöbeln hockten, die die Holzplünderer bisher nicht aufgetrieben hatten; vor ihnen auf dem Fußboden lag die Frau ausgestreckt unter einer schmutzigen Decke und murmelte unverständliche hebräische Gebetsformeln.
|286| Damals hatte es unbegreiflicherweise noch Orte im Getto gegeben, an denen man sich unbemerkt aufhalten konnte. Dann folgte die entsetzliche Septemberaktion, und jüdische Ordnungspolizisten jagten Rebbe Gutesfeld gewaltsam aus dem einfachen Mietzimmer, in dem er mit seiner Frau wohnte. Auch Fide Szajn musste Schutz suchen. Vielleicht wäre auch er deportiert worden, wenn Mosze Karo nicht in letzter Minute erreicht hätte, dass
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