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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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unbeschreiblicher Erleichterung lässt sich Staszek in den Wagen helfen. Aufs Neue wird eine Decke um ihn geschlungen. Die ganze Zeit über hat sich der Älteste nicht umgedreht, ihn nicht berührt oder auch nur ein Wort gesagt. Mit weichem Knirschen setzt sich der Wagen erneut in Bewegung.

 
    |308| Nach Staszeks »kleinem Ausflug«, wie die Sache genannt werden sollte, änderte sich das Verhalten des Ältesten zu ihm. Es war, als wendete er sich nicht mehr direkt an den Jungen, sondern spräche stattdessen mit jemandem neben ihm, einem
anderen
Staszek, der ebenso aussah und dieselben Dinge sagte und tat, aber dennoch ein anderer war.
    Es schien, als hätte der Älteste vor diesem
anderen
Staszek ein wenig Angst.
    Zuweilen wurde diese Angst so stark, dass im Blick des Ältesten etwas Febriles, Dunkles sichtbar wurde. So als würde ihn dieser andere Staszek ständig quälen und jagen, ohne dass er erklären konnte, auf welche Weise, ja, ohne dass er überhaupt etwas darüber sagen konnte.
     
    Auch jetzt waren der Älteste und er in dem »Zimmer«, wo nichts anderes zum Atmen da war als alter Staub und Taubenkot.
    Früher, wenn sie sich in diesem Zimmer aufhielten, hatte der Präses darauf gedrungen, dass sie es sich »bequem« machten. Er hatte die Sessel von der Wand gezogen, hatte einen Aschenbecher geholt und Zigaretten angezündet. Zuweilen hatte er auch angefangen zu erzählen. Es kam vor, dass ihn die Geschichten, die er zu erzählen hatte, derart beschäftigten, dass er sogar die Hände vergaß, die bereit zur Anwendung in seinem Schoß lagen. Nunmehr aber saß er meist nur da und schaute Staszek an, mit einem stummen, verwaschenen Ausdruck in den Augen und mit etwas, das wie ein mundloses Lächeln wirkte.
    Als ich dich das erste Mal sah, warst du so groß und stark und tüchtig
, sagte der Präses, und neben ihm saß Staszek und wartete.
    Es war, als befände sich zwischen ihnen das Gitter eines Käfigs. Der Älteste saß auf der einen Seite davon, Staszek auf der anderen. In diesen Minuten wusste keiner von beiden,
wer Herr war und wer Sklave
, wie der Herr Präses die Sache ausgedrückt hätte.
    |309| Oder besser gesagt: Staszek wusste es.
    Der Präses befand sich
hinter
dem Gitter.
    Das aber war kaum eine Erleichterung. Genau diese Momente, in denen sich der Präses im Käfig befand, fürchtete Staszek am meisten. Dann ging es nicht mehr um den Präses und Staszek, sondern nur noch um den Präses und den Käfig. Der Präses lief und lief. Ganze Nächte hindurch lief er und maß den Abstand von einer Seite des Käfigs zur anderen. Oder er stand allein im Käfig und betete. Rumkowski betete jeden Morgen und jeden Abend; entweder in dem alten Präventorium zwei Häuserblöcke die Straße hinunter, in der sie wohnten, oder in der alten Talmud-Tora-Schule in der Jakuba, die als Synagoge genutzt wurde. Wenn Rumkowski betete, tat er das mit hoher, schriller, eindringlicher Stimme, als würde er auch vom Höchsten etwas fordern. Und in gleicher Weise sprach er zu ihm:
     
    Warum, Stasiulek? Ich habe dich aufgenommen, damit du unter den Reinen weilst. Deshalb ließ ich dich zu mir kommen, statt all diese anderen
ganejvim
, die sich nur widersetzen, mich verhöhnen und erniedrigen. – Warum beharrst du dann darauf, mir weh zu tun?
     
    Aber es gab auch Augenblicke, in denen der Präses die Finger, einen nach dem anderen, um die Gitterstäbe legte und ihn anflehte:
Staszek!
, rief er;
Stasiu, Stasiulek, Stasinek …
Und er streckte die Arme durch das Käfiggitter, umfasste den Kopf des SOHNES und presste ihn an sich.
    Dann küsste er ihn.
    Dann krönte er ihn.
    Und während der Krönung war der SOHN in weite, rote Gewänder gehüllt, die der Älteste eigens hatte nähen lassen, und als Fußbekleidung erhielt er ein Paar hohe glänzende Schuhe aus echtem Leder, in deren schützender Hülle sich jeder Zeh mit einer Behutsamkeit und Vorsicht bewegen musste, wie es nur dem nobelsten Edelmann gelang. (Der Präses führte es persönlich vor:
Nicht zu schnell und nicht zu langsam; gefügig und geschmeidig muss es sein.)
Und nach der vollzogenen Krönung stand der KÖNIG, der hohe Heerführer, allein in seinem Käfig und betrachtete das Geschöpf auf der anderen Seite, und Tränen liefen |310| ihm über die Wangen. (
Warum weinst du denn, mein Vater?
) Vielleicht weinte er, weil er seinen Sohn ausstaffieren und schmücken konnte, so viel er wollte, es aber gleichwohl nicht schaffte, ihn in seinem
Innersten
zu berühren,

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