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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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kullerten oder von plötzlichen Schritten, unmotiviertem Schulterklopfen und übertrieben lautem Lachen zerschlagen und zerstampft wurden.
    Da die Türen immer offen standen, nutzte Staszek die Gelegenheit – grapschte sich eine Handvoll klebriger Schnittchen, spazierte durch das hohe Empfangszimmer und von dort die Treppe hinunter, wo der Schlüsselmann Wache hielt. Staszek sah meist nur die Rückseite des Mannes, der in seinem Kabuff hockte, sah seinen uniformierten Rücken und die drei nilpferdhäutigen Nackenwülste, über denen eine
richtige
Polizeimütze mit rotem Band thronte. Also war der Schlüsselmann nicht nur Schlüsselmann – er war auch Polizist! Um den Uniformärmel trug er eine weiße Armbinde, in der Mitte mit einem blauen sechszackigen Stern, und in dem Stern befand sich ein weißer, ein V-Zeichen einfassender Kreis. (Staszek wusste, dass dieses Emblem
Oberwachtmeister
bedeutete.)
    Die einzige Möglichkeit, an diesem mächtigen Koloss vorbeizukommen, war, hinter dem Kabuff eine schmale Kellertreppe hinunterzuschleichen. Von dort aus hatte Staszek bereits einen Weg ausgekundschaftet, über einen engen Kellergang in einen Raum, der ehemals die Waschküche gewesen sein musste. Dort lehnten Wannen und Spülbottiche an der Wand, manche mit großen geflammten Rostwunden an Stellen, wo aus vor langer Zeit abgeschraubten Hähnen Wasser geflossen sein musste. Indem er auf die Kante einer der leeren Wannen stieg, reichte er bis zu einem Fenster dicht unter der Decke hinauf, das einen Spaltbreit offen stand. Mit einer Hand stieß er den Haken auf, der das Fenster offen hielt, griff nach dem Rahmen und presste Kopf und Schultern so weit wie möglich hinaus. Und Zeichen und Wunder: Noch bevor die Wanne kippte, packte ihn jemand
dort draußen
unter den Armen und zog und zerrte, bis er seinen ganzen Körper hindurchgepresst hatte.
    Draußen stand die sonderbarste Gestalt, die er je gesehen hatte.
    Ein Junge, ungefähr im selben Alter wie er selbst, das vorgebeugte Gesicht wie zu einer Grimasse ständigen Schmerzes verzerrt. Über den Schultern trug er ein Kreuz aus Holzplanken, im Winkel übereinandergelegt. Von den Planken hingen Fläschchen, Gläschen und Röhrchen, die klappernd gegeneinanderschlugen, als er erschrocken versuchte, sich |302| aufzurichten. Doch sein Blick unter den Holzplanken lag nicht mehr auf Staszek, sondern auf den Schnittchen, die dieser verloren hatte, als er aus dem Fenster kroch, und die jetzt auf dem schmutzigen Sand verstreut lagen. Schnurstracks stürzte sich der Junge darauf und stopfte alles, was er in die Hände bekam, in den Mund, unterschiedslos ob Sand oder Brot, während Fläschchen, Döschen und Röhrchen über ihm klangen und tönten wie ein Turm voll läutender Glöckchen.
    Als er alles verschlungen hatte, lehnte er sich unter seinem Holzkreuz zurück, klopfte sich auf den Bauch und verkündete mit hochtrabender Stimme:
    Ich bin der Sohn des Präses!
    Staszek starrte ihn wortlos an. Zwei zerkratzte, blaugefrorene Beine in einem Paar schlammiger
trepki
– sollte das der Sohn des Präses sein? Es stellte sich jedoch heraus, dass der Flaschenjunge es nicht ganz so wörtlich gemeint hatte, wie es klang:
     
    Alle im Getto sind die Kinder des Präses.
    Das sagt Bronek.
    Also muss ich auch der Sohn des Präses sein.
     
    Dann begann er mit lauter, klagender Hausiererstimme zu rufen:
     
    EL-I-KSIIIR, EL-I-KSIIIR
    Kauf dir ein herrliches neues Leben.
     
    Erst jetzt begriff Staszek, dass der Flaschenjunge eine wandernde Apotheke war. Vom Holzkreuz hingen nicht nur Fläschchen und Gläschen, sondern auch Stoffbeutelchen, Spiegelscherben, Scherenschenkel und kleine Seifenstücke an Schnüren und Seilen herunter. Mitten über diesem Sammelsurium zeichnete sich das Gesicht des Jungen ab, klein und blass und gleichsam zu Tode erschreckt von all dem, was um ihn pendelte und baumelte.
    »Hier gibt es keine Apotheke mehr«, erklärte der
echte
Sohn des Präses mit einer Stimme, die wie die des Vaters klingen sollte, autoritär und abweisend.
    |303| Aber der Flaschenjunge ließ sich nicht entmutigen.
    »Das spielt keine Rolle«, gab er zurück. »Besser, man steht an einem Ort, wo die Leute
glauben
, eine Apotheke zu finden, als woanders. Sagt jedenfalls Bronek!«
    Staszek hegte den Verdacht, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte. Es lag an dessen Blick, der zu dem, was er anschaute, nicht hingelangte. »Willst du noch mehr essen?«, fragte Staszek und zog ein Stück Brot aus der

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