Die Elenden von Lódz
Stoff.
|315| Frau Regina und Prinzessin Helena konnten einander nicht ausstehen. Frau Regina nannte Prinzessin Helena
die verrückte Hysterikerin
; Prinzessin Helena sagte, Frau Regina sei
eine fanatische Karrieristin, die einem alten Mann den Kopf verdreht hatte
. In Anwesenheit anderer lächelten sie einander unter höhnisch blickenden Augen steif zu. Wenn sie allein waren, stritten sie ununterbrochen.
Du hast einen Geschmack wie eine simple Kaltmamsell
, konnte Prinzessin Helena zu etwas äußern, das Frau Regina gesagt hatte, und in Reginas Gesicht erlosch das Lächeln, und sie ließ alles, was sie in Händen hielt, fallen und zog sich in ihr Zimmer mit den Verdunkelungsgardinen zurück. Prinzessin Helena, die ihr in nichts nachstehen wollte, brach auf dem Sofa zusammen, während Herr Tausendgeld mit einer Tasse Tee herbeieilte.
Mein Gott, ich ertrage diese einfältige Person nicht mehr
, sagte Frau Helena in einem Deutsch, das für die Salons bestimmt war, jedoch in einem Zimmer, in dem außer Herrn Tausendgeld, der ohnehin nur Jiddisch sprach, niemand zuhörte, eckig und kantig klang.
Das letzte Mal, als er den Flaschenjungen traf, hatte er Meister Hinzels Anzug zum ersten Mal getragen, und die Brotreste hatte er in Jackentaschen gesteckt, die ihm viel zu groß und weit für das wenige vorgekommen waren, das Frau Koszmar erklärt hatte, entbehren zu können.
Das war am selben Tag, als in der Wolborska der Brand in der Kleinmöbelfabrik ausbrach, der beinahe das gesamte Getto in Flammen aufgehen ließ; und was die Taschen anging, hatte Staszek zu Meister Hinzel gesagt, er solle sie besonders weit nähen, da auch sein
Chanukkageld
dort hineinpassen müsse.
(Er sagte solche Sachen häufig, weil er wusste, dass sie den Leuten Spaß machten.)
Er und der Flaschenjunge waren wie üblich übereingekommen, sich auf dem Hof hinter der Gerberei zu treffen. In der Ziegelmauer gab es ein kleines Loch, in das Staszek das Essen stopfte, falls der Flaschenjunge aus irgendeinem Grund fernbleiben musste. Als Staszek an diesem Tag dort ankam, war der Flaschenjunge nicht da, jemand aber hatte den Ziegelstein, mit dem er das Loch stets verschloss, herausgenommen und auf den Boden gelegt. War der Flaschenjunge da gewesen, hatte gesehen, |316| dass das Versteck leer war, und war wieder gegangen? Oder war es ein
Zeichen
?
Obgleich er begriff, dass jetzt Gefahr drohte, konnte Staszek der Versuchung nicht widerstehen, zur Mauer zu gehen. Im selben Augenblick, als er sich nach dem Ziegelstein bückte, presste sich ein Arm um seine Kehle, und eine Faust zwang ihn in die Knie. Das Keuchen hinter seinem Rücken erwies sich als das eines Mannes mit löchrigen, schwarzen Zähnen, dem die Mütze so tief in der Stirn saß, dass die Augen kaum zu sehen waren. Hinter ihm tauchten andere Männer auf, die an seinen Sachen zerrten und rissen und Hosen- und Jackentaschen von allem Essbaren befreiten. Er hielt die Handflächen vors Gesicht, um sich zu schützen, sah durch die Finger aber nur den Flaschenjungen schreckensstarr dastehen, unter einem Himmel, der in der Zwischenzeit immer gewaltiger und unnatürlich rot geworden war.
So hatte auch der Verrat eine deutliche Gestalt erhalten.
Das Schlimmste aber war zurückzukehren, der neugeschneiderte Anzug hing in Fetzen, und all die großzügig bemessenen Taschen waren herausgerissen: ein gekrönter König, in den Rinnstein geworfen.
Frau Regina hatte alles Beweismaterial gesichert. Die Zeichnungen und Bilder, die er so sorgfältig versteckt hatte, lagen jetzt ausgebreitet vor dem Blick des Herrn Präses. Frau Regina gab dem Ältesten auch Stifte und Zeichenblock zurück und erklärte, einer, der in seiner Freizeit Deutsche male, schrecke sicher auch nicht davor zurück, von
diesen
geheime Befehle entgegenzunehmen. Nicht nur über Gertler, der ihres Erachtens bereits ein
krankhaftes
Interesse an dem Jungen gezeigt hatte, sondern auch von all den anderen in Gertlers Sold: Miller, Kligier und Reingold. Sie hatten erkannt, dass
der schwache Punkt
des Präses der Junge war, und indem sie den Jungen verdarben, versuchten sie,
ihm
beizukommen.
All das quoll so rasch aus ihr heraus, dass sie zwischen den Worten kaum Atem holen konnte, und der Älteste blätterte den Block rasch durch, blieb an einem Bild hängen und hielt es Staszek hin:
Was ist das hier?
, fragte er.
Das Bild zeigte einen Jungen, der ein eckiges Holzkreuz auf den |317| Schultern trug. Es sah aus wie das Kreuz, mit dem man eine
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