Die Elenden von Lódz
um Problemen aus dem Weg zu gehen. Fräulein Smoleńska hatte immer gesagt, je weniger man wisse, desto besser. Jedenfalls, wenn man mit den Behörden zu tun hatte.
Hin und wieder bemerkte er auch andere Menschen in der Finsternis. Einige mit Armbinden und Uniformmützen. Was würde passieren, wenn er sie anhielt und erklärte, er sei die Person, nach der sie suchten? Vielleicht aber würden sie ihm nicht glauben, weil viele umherliefen und behaupteten, Präseskinder zu sein. Vielleicht war es besser, wenn er sagte, wie es sich tatsächlich verhielt. Dass er nicht wusste, was oder wer oder wo er war. Zuletzt hatte er mit seiner Mutter in einem Bus gesessen, und auch andere Menschen waren dabei gewesen, dann war jemand mit einer Decke gekommen und hatte sie um ihn gelegt, weil er nass war und fror. Aber das waren Fremde, alle, die er im Getto getroffen hatte, waren
Fremde
. Mit ihnen zusammen hatte er viele Dinge erlebt, jetzt aber musste man ihm helfen, nach Hause oder wenigstens ins Grüne Haus zurückzukommen, wo Fräulein Smoleńska ihm bestimmt sagen würde, wer er war, und irgendwo musste er ja auch schlafen.
Doch noch immer war er niemand; und die Dunkelheit, die um ihn herum geherrscht hatte, war jetzt auch in ihm. Wenn sie ihm bis zu den Augen reichte, würde sie zu Wasser werden. Ein dunkles Wasser, tief genug, um darin zu ertrinken. Er fürchtete die Dunkelheit in sich selbst. Es war, wie wenn er versuchte, abends einzuschlafen. Er wagte sich nicht zu rühren, weil er nicht wusste, ob er selbst sich im Dunkeln bewegte oder ob es das Dunkel war, das sich in ihm bewegte.
Als er sich umdrehte, sah er ein Gesicht, das aus dem Dunst hinter |306| ihm Form gewann. Kein Körper, nur ein bleiches Oval ohne erkennbare Züge hing in der Luft wie ein Ballon oder wie eine Lichtspiegelung in einem Fenster. Zu dem Gesicht gehörte auch eine Stimme, eine gänzlich ruhige, helle, feste Stimme, die fragte, was einer wie er nach der Sperrstunde noch draußen machte. Er wiederholte das schon einmal Gesagte, dass er nach dem Kinderheim in der
Oko-po-wa
suche.
Das ist hier, gleich hier um die Ecke
, erwiderte das Gesicht.
Sie waren vor einem Zaun stehen geblieben. Hinter dem Zaun lag ein Haus im Nebel. Aber war das wirklich das Grüne Haus?
Er erkannte es nicht wieder. Versuchte sich zu erinnern. An damals, als sich alle Kinder auf der Treppe zum zweiten Stock aufstellen mussten, während Direktor Rubin und Fräulein Smoleńska sie durchzählten, zehn, zwölf, vierzehn (war er Nummer vierzehn?), und sie dann zum Großen Feld abmarschieren ließen, wo die deutschen Uniformierten um ihre schlammbespritzten Laster Wache hielten, die Gewehre im Anschlag. Es lief ab wie damals, als man sie gezwungen hatte, neben der Friedhofsmauer Aufstellung zu nehmen, und die Nazis gekommen waren und alle seine Brüder abgeführt hatten. Er erinnerte sich nicht. Ihm war, als ob das, was jetzt geschah, bereits mehrmals geschehen wäre.
Wen suchst du?
, fragt das Gesicht.
Staszek schüttelt den Kopf und macht Anstalten, allein auf den Zaun zuzugehen. Doch das Gesicht hält ihn auf. Die Stimme ist nun noch sanfter, als sie erneut fragt:
Willst du, dass ich nach jemandem Bestimmten fragen soll?
Staszek steht einen Augenblick ohne Antwort da. So weit hatte er nicht gedacht.
Fräulein Rosa
, sagt er schließlich.
Fräulein Rosa Smoleńska.
Rosa
, sagt das Gesicht und löst sich im Nebel auf. Nach ein paar Augenblicken harte Faustschläge an einer Tür: »Ich soll nach einem gewissen Fräulein
R-r-r-osa
fragen«, hört er das Gesicht äußerst energisch sagen, und aus dem Haus kommt eine mindestens ebenso laute schrille Stimme, nicht als Antwort auf die Frage des Gesichts, sondern als Erkundigung bei jemand anderem:
Fräulein Rooo-osa? Fräulein Rooo-osa? Gibt es hier ein Fräulein Rooo-osa?
|307| Aus dem Haus ist jetzt ein Sturm lauten, ausgelassenen Lachens zu hören. Männerlachen.
Als das Lachen erstirbt, wird es vollkommen still. Es vergeht eine Weile. Es ist, als hätte sich alles um ihn herum – das weiße Gesicht, die Stimme und das Haus – in Nebel aufgelöst und wäre einfach verschwunden. Aus dieser Leere nähert sich langsam das Geräusch klappernder Hufe. Lange sieht er nur das weiße Pferd. Das Gespann hat keine Eile. Erst als es dicht herangekommen ist, wird Herrn Kupers krummer Rücken sichtbar, dahinter die unter dem hochgeklappten Verdeck hockende Gestalt des Ältesten.
Kuper hat bereits den Tritt ausgeklappt, und mit
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