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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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jenes, das dafür sorgte, dass sich die schmalen Zehen in den feinen Lederschuhen federleicht bewegten, die Schultern unter der Last des rotglänzenden Umhangs bebten und das Herz in seinem breiten Brustharnisch pochte und schlug.
    Und der Präses schaute seinen geliebten, nunmehr vollkommenen Sohn an und sagte:
     
    Staszek, Stasiu, Stasiulek – mein geliebter Kleiner: Was wurde aus dir, und was wurde aus all den anderen geliebten Kindern?

 
    |311| Staszek aber traf den fremden Jungen mit dem Tragekreuz und den Apothekergläschen auch weiterhin. Nun verabredeten sie sich an sichereren Orten, die vom Schlüsselmann nicht eingesehen werden konnten. Einer lag weiter hinten im Hof, auf dem sich eine Schaberei und Gerberei befand, die die Schusterwerkstätten des Gettos mit frischem Leder belieferte. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, fütterte Staszek den Flaschenjungen mit Brotstückchen, die er zunächst im Mund angefeuchtet und dann zu kleinen Kugeln geformt hatte, und der Junge riss den Mund auf und schluckte, genau wie eine Schildkröte, und erzählte Geschichten von dem, was an anderen Orten des Gettos passiert war.
    Eine handelte davon, wie der Präses zu Besuch gekommen war in das einfache Kanonenofenzimmer, das sich der Flaschenjunge und sein Onkel Bronisław mit einem älteren Cousin namens Oskar teilten, der blind war und deshalb nicht allein zurechtkam und auch nicht zum Auskommen der Familie beizutragen vermochte.
    Es war in dem strengen Winter, 1941, gewesen.
    Bronek, der, um die Miete bezahlen zu können, zusätzlich als Hauswart in dem Gebäude arbeitete, hatte angeordnet, dass der Flaschenjunge, statt vor dem Ofen zu sitzen und sich zu wärmen, vor dem Tor Eis hacken sollte. Bronek kam manchmal auf solche Ideen. Nicht, weil die Dinge unbedingt erledigt werden mussten, sondern nur, um zu sehen, dass sein Neffe
etwas für sein Essen leistete
. Der Junge stand also mit Hacke und Spaten vor dem Tor, und plötzlich war ein Heer von Wagen, gezogen von schnaubenden Pferden, die Straße heruntergekommen, und das gesamte Heer hatte vor Broneks Neffen haltgemacht, und aus dem vordersten Wagen war der Heerführer gestiegen,
und siehe
– er stieg aus und nahm den unansehnlichen Jungen bei der Hand und erklärte, wenn
er
einen so ordentlichen und fleißigen Sohn hätte, würde es ihn stolz machen, sich dessen Vater nennen zu dürfen, und dann |312| gab er dem Jungen eine ganze Handvoll Lebensmitteltalons und Bonbons.
    Von Stund an begriff Bronek, dass sein Neffe ein echtes
glik
war, einer, aus dem »das Geld wie Scheiße floss«, wie er dem blinden Oskar erklärte.
    Deshalb legte Bronek seinem Neffen zwei lange Plankenstücke auf die Schultern und schickte ihn mit so viel von Herrn Winavers schwarzer Apotheke auf den Weg, wie er ihm nur aufladen konnte; und seit dem Tag zog der Neffe wie ein wandernder Kramladen durchs Getto, behängt mit Vigantol, Acetynil und Betabion; und mit gewöhnlichen Saccharin-Pillen (wer merkte schon den Unterschied, wenn man seinen Hoffnungen vertraute?); und Tabletten, die man gegen das saure, übelriechende Aufstoßen nahm, das man von der Fabriksuppe bekam; und einem Borkenextrakt mit einem Zusatz der
Kaffeemischung
, die, so hieß es, nicht nur »extra Nährwert« besaß, sondern auch gut für die Potenz war, und die die Leute im Getto »Biebows Mischung« nannten, weil Biebow, wie es hieß, früher Kaffeehändler gewesen war.
    (Onkel Bronek hatte zu dem Ganzen eine Theorie, nämlich, dass es in diesen schweren Zeiten nur eine Sache gab, die die Leute wollten, und die war, aus dem Getto herauszukommen – und wenn das nicht auf »natürlichem Weg« gelang, musste man es eben mit Medikamenten probieren!)
    Sieh her …!
, schrie der Flaschenjunge, steckte ein Fläschchen zwischen die Zähne und biss den Verschluss ab; und bevor Staszek wusste, wie ihm geschah, stand eine wundervolle Flammenwolke vor dem Mund des Jungen, wodurch all die Gläser schimmerten und glänzten wie der Sternenhimmel. Der Flaschenjunge erstickte die Flammen, indem er beide Hände vor den Mund hielt, und als Staszek erneut aufschaute, sah dessen kleines Schildkrötenmaul wie ein großer schwarzer Krater aus, über dem zwei weiße Augen erschrocken zurückblickten.
     
    So war es gewesen –
    Einmal, als Rosa Smoleńska die Kinder im Grünen Haus in Geschichte und Rechnen unterrichtet hatte, war sie in einen kleinen Raum neben dem Büro Direktor Rubins gegangen und mit einem Federkasten |313| mit Schiebedeckel,

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