Die Elenden von Lódz
Tasche. (Er hatte gelernt, immer etwas bei sich zu haben – um sich auch an Tagen, wenn es keinen Empfang gab, etwas in den Mund stopfen zu können.) Der Flaschensammler riss ihm das Brot aus der Hand und biss einen Brocken ab. Erst als er das ganze Stück verschlungen hatte, kam es ihm doch ein wenig seltsam vor, dass mitten in seinem eigenen Revier ein fremdes Kind auftauchte, obendrein die Taschen voller Essen.
Da aber hatte sich Staszek bereits auf den Weg gemacht –
Warte auf mich …!
, schrie der Flaschenjunge und lief hinter seinem Wohltäter her, doch mit zwei lastenden Holzplanken auf dem Rücken war es nicht so leicht zu rennen, und als sich Staszek das nächste Mal umdrehte, war das gesamte riesige Flaschengestell bereits außer Sicht, nur das weiche Klirren des Glases war weit hinter ihm zu hören.
Staszek bewegte sich in ruhigerem Tempo eine löchrige, abschüssige Straße hinunter, gesäumt von niedrigen Häusern und verfallenen Bretterschuppen. Entlang der Straße standen Menschen und boten Waren feil. Ein Fensterrahmen oder ein Türpfosten genügten als Ladentisch, auf dem nicht mehr als ein paar kleine Stoffreste oder Metallgegenstände zum Verkauf auslagen. Den Fenstern der Häuser fehlten Rahmen und Einfassung: Einige waren mit Masonitplatten vernagelt, oder es hing ein loses Stück Stoff davor. In einem Torweg saß ein Greis; die nach seiner Beinamputation verbliebenen Stümpfe waren mit grobem Sackleinen umwickelt. Zwischen den Holzkrücken hatte er ein ganzes Reich aus Metallgegenständen, Töpfen und Pfannen mit und ohne zugehörige Deckel ausgebreitet. Zum Schutz vor der feuchten Herbstkälte trug er ein zotteliges Schaffell als Weste über dem Leib und eine Ohrenschützermütze, die sich unter dem Kinn zubinden ließ. Vor seinen |304| Augen saß eine große schwarze Brille, durch die er hilflos umherschaute.
Staszek stand vor dem Blinden und ließ ein weiteres Stück Brot zwischen die beiden Krücken fallen, und der Blinde musste das Brot genauso deutlich fallen gesehen haben, als wäre es Manna vom Himmel, denn sofort waren seine Hände zur Stelle und tasteten zwischen Topfdeckeln und Pfannenstielen, und durch die Volksmenge, die sich inzwischen eingefunden hatte, ging ein leises
Ohhh-hh
des Erstaunens. Nicht nur, dass der Junge gutgekleidet und anscheinend gesund und sauber war; er verteilte auch Almosen an die Allerärmsten.
Das Kind selbst hatte alle frühere Vorsicht vergessen.
»Ich wollte nach dem Weg zum Kinderheim in der Okopowa fragen«, sagte er im höflichsten Polnisch, das er zustande bringen konnte.
»Op-kwa?«
Der Mann wies in alle möglichen Richtungen, bis Staszek begriff, dass dieses übermäßige Zeigen nur die Tatsache verbergen sollte, dass der Mann hinter seiner dunklen Brille nach wie vor herauszufinden suchte, was da für einer fragte. In der Zwischenzeit hatten sich die Neugierigen genähert, waren nicht nur ein entfernt stehender Pulk, sondern ein wütender Menschenhaufen, und alle hatten Fragen zu stellen.
Wer bist du? – Was machst du hier? – Woher kommst du?
Staszek duckte sich unter den Deichseln eines schrottbeladenen Karrens hindurch und sauste die Straße hinunter, bis er glaubte, in Sicherheit zu sein.
Als er sich umdrehte, stand die Volksmenge noch immer um den Blinden geschart, doch zu dem Mann mit dem Karren hatten sich zwei Polizisten gesellt, und Staszek sah, wie der Mann den Arm hob und mit dem Finger zeigte und wie alle, einschließlich der beiden Polizisten, in seine Richtung blickten.
Niemand aber machte Anstalten, ihm zu folgen.
Langsam verlor der Himmel alle Farbe. Die Häuser wurden spärlicher; Bäume und Steinmauern wichen einen Schritt vom Straßenrand zurück. Nirgendwo war elektrisches Licht zu sehen. Mit der heraufziehenden Dunkelheit kam auch die Kälte. Was Staszek zunächst für seinen eigenen |305| Atem hielt, erwies sich als immer dichterer Dunstschleier in der Luft. Langsam begannen seine Füße und Fingerspitzen gefühllos zu werden.
Er dachte, dass der Präses vermutlich schon unterwegs war, um nach ihm zu suchen. Mit seinen Leibwächtern würde er von Haus zu Haus gehen und fragen, ob jemand
den Auserwählten
gesehen hatte, und bald würde er den Mann mit dem Karren erreichen, und die Leute würden Angst bekommen, und vielleicht würden sie sagen, wie es gewesen war, dass sie
ihn gesehen hatten
. Vielleicht hofften sie, auf diese Weise eine Art Belohnung zu erhalten, oder sie sagten, sie wüssten nichts,
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