Die Elenden von Lódz
Vater feucht und schal in seinem Nacken; Staszek ist plötzlich eingehüllt von fettem Alkohol- und Tabakdunst –
Ich werde es nie erlauben, dass sie dich mir wegnehmen.
Du bist mein Ein und Alles.
Darauf ein undeutlich grunzender Laut: als weine der Präses vor sich hin oder lache einfach. Oder wird nur alte Luft aus seinem Körper gestoßen? Oder kommt es von ihrer beider Körper, die aneinanderschlagen; mit einer Art schnaubendem Jubel wirft sich der Präses nun obenauf und schlingt sich dort fest, während sein großer, schwerer dankbarer Kopf über Staszeks Hals und Nacken und Schulterblätter gleitet und mit seinen geschwollenen Lippen und seiner großen, nassen Zunge all das Schmierige, Rinnende aufsaugt und schleckt, das er zuvor in die Haut geknetet hat. Und Stück für Stück, Schlag für Schlag wird Staszeks Leib tiefer in die Wand gepresst. Dort sitzt er fest wie ein erschlagenes Insekt: Bis ins kleinste Detail gleicht es dem stummen Abdruck, |329| der von seinem toten Körper übrig ist. Und nun gibt es keine Wand mehr – kein Weinen, keinen Schmerz. Nur einen kopflosen Körper. Und wer kann sich vor einem Körper ohne Kopf fürchten?
|330| Und der Älteste beugt sich vor, schlägt sich auf die Knie und beginnt zu erzählen:
Kindl hieß ein Junge, der Schlüssel zu allen Häusern der Stadt besaß. Magische Schlüssel. Es gab kein Haustor, das Kindls Schlüssel nicht aufzusperren vermochten. Seine Schlüssel passten zum Haus des Bürgermeisters oben beim Schloss ebenso wie zu der einfachen Bleibe des Rabbiners hinter der Synagoge. Auch zu den Mehlsacklagern der Müller und zu den Wohnungen all der reichen Kaufleute unten in der Stadt hatte er Zugang. Er konnte hineingehen und nehmen, was er wollte, aber er war kein solcher Junge, der sich bei anderen bediente.
Auch zu den Herzen der Menschen hatte er Zugang. Oft erschreckte ihn, was er sah, wenn er die Tür zu den Herzen der Menschen aufschloss. Es gab so viel Bosheit, Verrat und Neid. (Als er aber den Schlüssel zum Herzen seiner Mutter benutzte, sah er nur, wie sehr sie ihn liebte …!)
Kindl ging, wie er es immer tat, durch die Stadt und öffnete die Türen mit seinen Schlüsseln. Die Leute waren es gewohnt, dass er kam, und stellten ihm oft Essen bereit. Viele in der Stadt sahen es als ein gutes Zeichen, wenn Kindl bei ihnen gewesen war. Türen sollten nicht verschlossen und verriegelt werden. Sie waren dazu da, dass Menschen kamen und sie durchschritten. Weshalb sollte es sonst Türen geben?
In der Stadt gab es viele, die Kindl sehr mochten.
Eines Tages kam er schließlich zu einem Haus, das er nie zuvor gesehen hatte. Ein großes, prachtvolles Gebäude mit vielen Stockwerken und mit Türmchen und Zinnen. Das Tor war mindestens drei Meter hoch, und klein und unansehnlich, wie er selbst war, fiel es Kindl schwer, zum Schlüsselloch hinaufzugelangen.
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Der Schlüssel aber passte, und mit Mühe bekam er das Tor auf.
Dahinter gab es jedoch nur eine große leere Finsternis und eine mächtige Stimme, die sagte:
Fürchte dich nicht, Kindl, tritt herein!
Kindl aber fürchtete sich. Die Dunkelheit hinter dem großen Tor glich keiner anderen Dunkelheit, die er kannte. Sie war wie ein Nachthimmel ohne Sterne. Groß und kalt. Nicht einmal Wind blies in dieser Finsternis, alles, was in sie hinabfiel, wurde verschlungen, als hätte es nie existiert.
Zum ersten Mal in seinem Leben wagte Kindl nicht, dort hineinzugehen. Er schloss das Tor, das er soeben geöffnet hatte, kehrte heim und legte sich in sein Bett, und dann lag er viele Tage und Nächte krank danieder, und seine Mutter saß an seiner Seite und bat den Herrn, das junge Leben ihres Sohnes zu schonen.
Als Kindl nach vielen Wochen genesen war, entdeckte er etwas Seltsames. Keiner seiner Schlüssel passte mehr zu den Häusern. An der Wohnung des Bürgermeisters, dem Zimmer des Rabbiners; an dem Haus des Müllers oder dem Kaufmannshof: Nirgendwo konnten seine Schlüssel die großen Schlösser öffnen. Da begriff er, dass er nur eins tun konnte: zu dem großen Haus zurückkehren und keine Furcht zeigen, sondern der Aufforderung der Stimme folgen und ins Haus treten.
Erneut stand Kindl vor dem großen Tor, und hier passte sein Schlüssel noch immer. Es war, als wäre keinerlei Zeit verflossen.
Erneut stand er vor der großen Dunkelheit, und aus der Dunkelheit erklang dieselbe mächtige Stimme und sagte:
Fürchte dich nicht, Kindl, tritt herein!
Und Kindl fasste sich ein Herz und
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