Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
den Sprechenden zu schlagen, sobald jener etwas sagte, was der Älteste nicht hören wollte.
    Mit dem Lächeln des Ältesten stand es wie mit seinen Händen: Es war ein Werkzeug, mit dem er befahl, was getan werden sollte.
    Sofern er nicht nur lachte, um
zu zeigen
, wie zufrieden er war. Dann klatschte er sich ausdrücklich auf die Schenkel, und sein Oberkörper machte abrupte Verrenkungen. In solchen Momenten war immer
der Blick
da – der billigende Blick des netten, sich einschmeichelnden Kopfs, den Staszek mehr als alles andere zu fürchten gelernt hatte.
    Gänzlich kopflos hatte Staszek den Ältesten nur zweimal gesehen.
    Das erste Mal damals, als der Präses in seinem Käfig gesessen und Staszek angesehen hatte, als wollte er, dass jener käme und die Tür aufschlösse. Das zweite Mal, als die Deutschen gekommen waren, um Gertler zu holen. Staszek war an jenem Tag versehentlich zur anderen Seite des Korridors gegangen, zu dem Zimmer, dass der Älteste als heimisches Büro benutzte. Dort hatte er den Präses rücklings auf dem Sofa liegen sehen, den Mund offen und die Beine an die Brust gezogen wie ein Kind. Im Schlaf war sein Gesicht so starr und unbeweglich, dass Staszek überzeugt war, Körper und Gesicht gehörten nicht mehr zu einem lebendigen Menschen. Nicht, dass er glaubte, der Älteste wäre wirklich tot, sondern dass er genau so aussehen würde, wenn er schließlich starb.
    Deshalb lief Staszek nun zwischen den ernsten Männern umher, die sich sofort nach der Ergreifung des Ältesten in seiner Wohnung versammelt hatten, und schrie:
     
    Mein Vater Präses, ist er jetzt tot?
    Mein Vater Präses, ist er jetzt tot?
     
    In allen Räumen des Judenältesten standen Grüppchen und wiederholten mit leiser, flüsternder Stimme die beruhigenden Worte, die Doktor Miller bereits übermittelt hatte. Dass die Behörden nur wissen wollten, wie es sich mit der Verteilung der Lebensmittel verhielt; dass keinesfalls |325| weitere Deportationen anstanden. Insofern dauerte es ziemlich lange, bis die versammelten Amtsträger den Jungen bemerkten, der sich zwischen den Erwachsenen herumdrückte und Anstößiges schrie.
    Frau Regina packte ihn rasch am Arm und schleppte ihn in das ZIMMER –
    Staszek widersetzte sich mit aller Kraft.
    Ich will meinen Vater Präses zurückhaben
, schrie er.
    Er war nicht länger »er selbst«. Das Einzige, was von ihm übrig war, war ein vollkommen zügelloser Wille:
    Ich will meinen Vater Präses zurückhaben
, schrie er wieder und wieder.
    Zur gleichen Zeit fanden draußen in dem offenen, hellen Zimmer Verhandlungen statt. Man redete bereits davon, wen man eventuell als Nachfolger des Alten ausersehen könnte.
    Mit Frau Koszmars Hilfe riss Regina ein Stück Laken entzwei und zwirbelte es zu einem harten, festen Band, das ihm beide gemeinsam in den Mund pressten, um sein Geschrei zu stoppen. Es war das zweite Mal, dass Staszek festgebunden wurde. Diesmal aber konnte er keinen einzigen Teil seines Körpers rühren. Nicht einmal den Mund. Die Zunge saß ihm wie ein Würgekloß im Schlund, er kämpfte, um sie nicht zu verschlucken, und erbrach sie anschließend ununterbrochen.
    Der Schrei aber saß noch immer in ihm.
    Und der Schrei rührte von diesem Entsetzlichen her, jemand zu sein, doch nicht mehr zu existieren.
    Er sah sich selbst tief unten in einem Schrank liegen, zusammen mit einem Kopf, der nicht der seine war, der ihm aber dennoch irgendwie gehörte. Und irgendwo in der Nähe sammelte der Präses seine eigenen verstreuten Körperteile ein und kam durch die Dunkelheit auf ihn zugeschritten, und der Lederschurz um seine Taille war blutig von all den Körperteilen, die er sich hatte abschneiden müssen, um bis zu ihm zu gelangen:
    Zu seinem einzigen, seinem heißgeliebten Sohn.

 
    |326| Der Judenälteste blieb den ganzen Tag und auch den nächsten halben verschwunden. Erst gegen halb elf Uhr mittags am Tag darauf rief Fräulein Estera Daum vom Sekretariat an und teilte mit, der Höchste sei wieder wohlbehalten eingetroffen. Er war mit der »arischen« Straßenbahn gekommen, die Bałuty jeden Tag durchquerte, gekleidet in denselben Anzug und Mantel wie zu dem Zeitpunkt, als die Gestapo ihn holen kam. Das Erste, was er beim Wiederantritt seiner Funktion getan hatte, war, sich in seinem Büro einzuschließen, und dort saß er noch immer, berichtete Fräulein Daum, nachdem er seine engsten Mitarbeiter einen nach dem anderen zu sich gerufen hatte.
    In seiner Finsternis stellte Staszek sich

Weitere Kostenlose Bücher