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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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vor, dass er mit dem Rücken an einer Mauer lag.
    Die Mauer glich der Ziegelsteinwand, die vor der Gerberei auf dem Hof stand, doch ohne dass sich einzelne Stücke herauslösen ließen. Er lag mit dem Rücken an die harte, kalte Mauerfläche gepresst, und vor ihm im Dunkeln stand der Junge mit dem Bretterkreuz, an dem all die Fläschchen und Döschen mit Tinkturen und Medikamenten an langen Seilen und Schnüren hingen.
    Wie bei einer Marionette, deren Schnüre sich verheddert hatten, schlugen sie melancholisch klappernd und rasselnd gegeneinander. Es klang wie das Geräusch von Wasser, wenn hier hätte Wasser fließen können; oder wie das Geräusch von Hufen und Wagenrädern weit weg auf einer kopfsteingepflasterten Straße. Die Frauen, von denen der Junge erzählt hatte, lagen entlang des Straßenrands oder auf den Innenhöfen: einige, die Arme noch immer schützend um ihre Kinder gelegt, andere mit weitgespreizten Beinen, wie Tierkadaver, und niemanden interessierte es, wie sie lagen oder aussahen; die toten Körper wurden gepackt und wie Mehlsäcke auf die Ladeflächen geschwungen.
    |327| Als der Flaschenjunge das erzählt, ist seine dünne Stimme so voller Trauer, dass auch Staszek in Weinen ausbricht. Er weint nicht wegen des Flaschenjungen oder wegen seiner toten Mutter oder wegen all der anderen Toten, er weint um sich selbst. Er weint, weil er mit dem Gesicht an einer Mauer liegt. Und weil diese Mauer den, der er jetzt ist, von dem, der er zuvor gewesen ist, trennt, und weil die Wand so hoch ist, dass man diesseits von ihr nichts sieht und nichts hört; nur das Klappern und Rasseln der leeren Fläschchen, jedes Mal, wenn die unansehnliche Gestalt, die den Auftrag hat, sie auszutragen, aufsteht und fällt, aufsteht und fällt; und Mosze Karos Stimme, die eintönig von dem Versprechen des Herrn an die weit Verstreuten liest, so wie es der Prophet Hesekiel bezeugt hat, denselben Text, den er selbst bei seiner Bar Mizwa lesen wird:
     
    Sie sollen sich auch nicht mehr verunreinigen mit ihren Götzen und Greueln und allerlei Sünden. Ich will ihnen heraushelfen aus allen Örtern, da sie gesündigt haben, und will sie reinigen; und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.
     
    Er musste eingeschlafen sein, denn im nächsten Augenblick ist das Flaschenklirren verhallt, und der Geruch nach Tabakrauch hängt dick in der Luft. Ein vager Lichtstreifen ist ins Zimmer gefallen. Ohne sich umzudrehen, weiß er, dass der Präses im Raum ist, vermutlich schon lange. Wie so viele Male zuvor hat er den listig blickenden Kopf aufgesetzt, und Staszek merkt es und beginnt wieder zu weinen. Listig, wie der Präses ist, zieht er es vor, die Sache falsch zu verstehen. Der Bettenboden unter ihm gibt nach, als er sich daraufsetzt und Staszek so behutsam ums Kinn fasst, dass man glauben könnte, er nähme ein äußerst kostbares Juwel in die Hand.
    Du musst nicht traurig sein, mein Junge. Ich habe was zu essen für dich. Schau mal, was für gutes Essen.
    Papier knistert, als die Päckchen ausgewickelt werden. Bald werden die kleinen zitzenähnlichen Finger des Ältesten mit den ersten Brotbissen in seinen Mund drängen. Er schluckt rasch, um die ihn durchflutende Übelkeit zu vertreiben.
    |328|
Ich habe mit Mosze Karo gesprochen.
    Er sagt, dass du große Fortschritte machst.
    Ich bin stolz auf dich.
    Der Älteste streicht ihm große Klumpen leicht ranziger Butter auf die Lippen, schiebt Brot hinterher, kandierte Pfirsiche, Marmelade. Tränen fließen vor Abscheu und Ekel, doch er saugt, schleckt und schluckt gehorsam. Auch dicke Schlagsahne. Der Präses hat die ganze Handfläche voll und presst sie ihm jetzt an den Mund, damit er alles aufschleckt.
    Am ersten Sabbat nach Chanukka werden wir deine Bar Mizwa feiern.
    Der Älteste hat sich der Länge nach im Bett ausgestreckt, und nun sind auch seine klebrigen Hände an Staszeks Taille und Brust. Langsam bewegen sie sich das Rückgrat hinunter und streichen und schmieren ihm Butter in langen Zügen zwischen die Schenkel, die ganze Zeit hört er den dicken keuchenden Atem hinter sich, so als schnaufe eine schwere Maschine; dann werden ihm zwei butterbeschmierte Finger in den Anus gepresst, und zwei noch glitschigere Finger streichen und streicheln Hodensack und Peniswurzel, und trotz des Schmerzes und der Scham kann er es nicht verhindern, dass sein Glied steif wird, und im plötzlichen Schmerz dreht sich sein Körper weg, aber –
    Du musst keine Angst haben
, sagt der

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