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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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trat in die große schwarze Dunkelheit.
    Und er wurde nicht mit Blindheit geschlagen, wie er befürchtet hatte. Auch verschlang ihn die große schwarze Finsternis nicht, wie er geglaubt hatte. Er fiel nicht einmal, sondern schwebte in dieser Finsternis, als wäre er geborgen in einer großen sicheren Hand. Da verstand er, dass die mächtige Stimme, die er aus der Dunkelheit vernommen hatte, die Stimme des Herrgotts war und dass Gott ihn nur hatte auf die Probe stellen wollen. Von diesem Tag an war Kindl, wo immer in der Welt er sich auch aufhielt, daheim. Und vor nichts brauchte er
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Angst oder Furcht zu empfinden, nicht einmal vor der Finsternis, denn er wusste, wohin im Dunkeln er auch immer ging, stets würde der Herr dort sein, um ihn zu führen.

 
    |333| Fünf Tage nach dem achten und letzten Tag von Chanukka feierte der Älteste des Gettos, Mordechai Chaim Rumkowski, die Bar Mizwa seines Adoptivsohnes, Stanisław Rumkowski. Die Zeremonie fand im ehemaligen Präventorium in der Łagiewnicka 55 statt, wo Mosze Karo seine
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abzuhalten pflegte und wo der Älteste, dem Vernehmen nach, mit den Chassiden zusammengetroffen war. Mosze Karo schritt an der Spitze einer kleinen Prozession, die die
Sefer Tora
von der verschlossenen Galerie der in der Jakuba gelegenen Talmud-Tora-Schule durchs ganze Getto trug; und er trug die Torarolle ganz offen, ohne Furcht vor Denunzianten oder unbestechlichen Kripobeamten.
    Es war ein frostkalter Wintertag. Rauch stieg aus den Schornsteinen kerzengerade zu einem Himmel auf, der nichts entgegennahm oder abwies.
    Außer engsten Familienmitgliedern waren alles in allem etwa dreißig Gettohonoratioren geladen, neben Personen aus dem unmittelbaren Umfeld des Präses, wie der Leiterin des Generalsekretariats Fräulein Dora Fuchs und deren Bruder Bernhard, auch der Leiter des Zentralen Arbeitsamt, Herr Aron Jakubowicz, der Richter Stanisław-Szaja Jakobson, Herr Izrael Tabaksblat und natürlich Mojsze Karo, der mit seinem entschlossenen Eingreifen den Jungen einst ins Leben zurückgebracht hatte und der für ihn vielleicht mehr ein Vater war, als es der Älteste je sein würde, selbst wenn das an einem Tag wie diesem natürlich nicht gesagt werden konnte. Als Zeichen ihrer besonderen Zusammengehörigkeit hatte Mosze Karo ihm jedoch den Gebetsschal geschenkt, den der Junge, als er wartend auf dem Podium saß, nun zum ersten Mal umgelegt hatte.
    Dann wurde die Torarolle hereingetragen, und da es keinen Rabbi gab, der die Zeremonie verrichten konnte, war es ebenfalls Mosze Karos Aufgabe, mit jener unter den Versammelten umherzugehen, damit ein |334| jeder, der es wünschte, die Fransen seines Gebetsschals küssen und die Rolle berühren konnte. Unter den in dem ausgekühlten Saal Versammelten entstand eine warme, innige Atmosphäre, die von dem Toratext des Tages, den Herr Tabaksblat vortrug, noch bestärkt wurde. Dem Kalender zufolge betraf die Lesung aus den Propheten einen Abschnitt aus Hesekiel, und wie man ihn gelehrt hatte, las der junge Rumkowski diesen Text mit klarer, deutlicher Stimme.
    Denn also spricht der Herr:
     
    Siehe, ich will die Kinder Israel holen aus den Heiden, dahin sie gezogen sind, und will sie allenthalben sammeln und will sie wieder in ihr Land bringen.
    Und will
ein
Volk aus ihnen machen im Lande auf den Bergen Israels, und sie sollen allesamt
einen
König haben und sollen nicht mehr zwei Völker noch in zwei Königreiche zerteilt sein;
    Sie sollen sich auch nicht mehr verunreinigen mit ihren Götzen und Greueln und allerlei Sünden. Ich will ihnen heraushelfen aus allen Örtern, da sie gesündigt haben, und will sie reinigen; und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.
     
    Ein einziges Mal nur kam Staszek ins Stocken. Das war, als die Zeremonie gebot, er solle sich an seine Eltern wenden und ihnen danken, dass sie ihm ermöglicht hatten, jenes Wissen zu erlangen, durch das er nun in die Gemeinde aufgenommen werden konnte. Der Älteste saß mit Gattin, Bruder und Schwägerin in der ersten Reihe vor dem provisorischen Lesepult, mit gesenktem Kopf und gekreuzten Beinen, als hätte die Ungeduld, die er verspürte, ihn nur noch mehr in sich zusammensinken lassen.
    Staszek sah ihn an, brachte indes die Worte nicht heraus. Da trat Mosze Karo hinzu und sprach sie ihm vor. Mit so raschem, eindringlichem Flüstern, dass niemand etwas zu bemerken schien. Regina zeigte weiter das breite Lächeln, das sie nunmehr Tag und Nacht trug, und neben ihr

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