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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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brachten natürlich
ihm
ihre satirische Huldigung dar. Dennoch wusste Regina, dass sie bei weitem nicht die Einzige unter den Zuschauern war, die die schlaffe Gesichtsmaske des Alten an dem von der Decke hängenden Seil in Gedanken austauschte gegen das bedeutend ansehnlichere Porträt des jüngeren Chefs der Sonderabteilung, das auf einem Kartonschild im Hintergrund zu sehen war.
    Chaim Rumkowski war ein Administrator, er schaffte es, dass sich die Leute mitten in Hunger und Erniedrigung sicher fühlten. Mit Dawid Gertler indes verhielt es sich anders. Er hatte etwas nahezu Magisches. Bewegte sich so ungezwungen, hatte keinerlei Mühe, mit Menschen zu reden. Und dann war da natürlich sein außerordentlich gutes Verhältnis zu den deutschen Behörden. Biebow, so munkelte man, fraß ihm buchstäblich aus der Hand! Allein das ließ viele Menschen glauben, dass Gertler einer gänzlich anderen Welt angehörte.
    Auf dem Empfang nach der Vorstellung hatte sie ihn mitten in dem Pulk bewundernder Anhänger stehen sehen, die ihn stets umgaben, und er hatte erklärt, dass auch die Deutschen Menschen waren:
Ja, an dem Tag, wo die Juden lernen, die Deutschen als Menschen zu behandeln, wäre eine Menge gewonnen
, sagte er und löste einen Orkan von Gelächter aus. Die Männer bogen sich vor Lachen, klatschten sich auf die Schenkel und bekamen kaum Luft.
    Und sie erinnerte sich, dass sie gedacht hatte:
    So spricht nur einer, der keine Furcht kennt.
     
    |341| Ansonsten war die Furcht in diesen Tagen allgegenwärtig. Die Furcht ließ die Glieder erstarren, den Atem im Hals stocken. Die Furcht ließ die Menschen am Morgen sorgfältig ihre Gesichtszüge zurechtlegen und alles ängstlich verfolgen, was hinter ihrem Rücken geschah. Die Furcht ließ die Männer und Frauen, die im Publikum saßen, derart besinnungslos über die von den Revueschauspielern dargestellten Karikaturen lachen, dass dieses Lachen fast einer Verzückung glich. Endlich hatten sie eine Möglichkeit, aus ihren elenden Körpern und Gesichtern herauszutreten. Hinterher sprachen alle derart laut und übertrieben miteinander, dass nur die Stimmen zu hören waren, kein Wort von dem, was einer sagte, falls überhaupt etwas gesagt wurde.
    Alle sprachen. Außer Gertler.
    Der stand schweigend außerhalb des Lichtkreises und war der Einzige, der wusste, wo sich die geheimen Ausgänge aus dem Getto befanden, und Reginas Sehnsucht, zusammen mit ihm durch diese hinauszutreten, war so stark, dass sie ihre Brust schmerzhaft umspannte.
    *
    Über Chaims Verhältnis zu Dawid Gertler gab es eigentlich nicht viel zu sagen:
    Anfangs hatte er ihm misstraut. Dann war er von ihm abhängig geworden. Am Ende hatte er ihn fürchten und hassen gelernt.
    Ehe das Misstrauen jedoch zu Hass wurde, war Gertler ein fleißiger Gast in ihrer beider Zuhause gewesen. Zu allen erdenklichen Tages- und Nachtzeiten hatte er sich zu langen, vertraulichen Gesprächen mit seinem Präses eingefunden. Es war auch vorgekommen, dass er erschien, um allein mit ihr zu reden.
Ich habe gehört, dass Sie in letzter Zeit nicht ganz auf dem Posten waren, Frau Rumkowska
, sagte er beispielsweise, um mit ihrer Hand in der seinen Platz zu nehmen und ihr tief und ernst in die Augen zu starren.
    Natürlich wusste sie, dass es nur Theater war:
    Wenn Gertler in Abwesenheit des Präses zu Besuch kam, war sein Ziel, etwas zu erfahren, über das der Präses selbst keinen Bescheid geben konnte oder wollte.
    |342| Gleichwohl konnte Regina nicht anders, als sich ihm anzuvertrauen. Eines Tages war selbst
das Allerschlimmste
aus ihr herausgebrochen. Auf verschiedene Weise hatte sie durchblicken lassen, dass Chaim mit ihr unzufrieden war, weil sie nicht schwanger wurde. Da hatte Gertler sie mit seinen großen Augen angeschaut und gefragt, was sie denn so sicher mache, dass ein Kind wirklich der einzige und richtige Ausweg für sie sei. »In Zeiten wie diesen können Kinder eher eine Belastung sein«, hatte er hinzugefügt und dann, wie nebenbei, über einige seiner Vertrauten in der deutschen Gettoverwaltung zu sprechen begonnen.
    In dieser Weise sprach er oft von deutschen Behördenvertretern, gern mit konkretem Attribut, das die Art seiner Beziehung zu der jeweiligen Person andeutete, wie etwa der
alte
Josef Hämmerle oder
mein guter Freund
SS-Hauptscharführer Fuchs, und was ließe sie eigentlich glauben, dass diese hochgestellten Männer alle Juden über einen Kamm scherten?, fragte er sie. Diese hätten ja wohl auch Augen im

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