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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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saß Prinzessin Helena, der es geglückt war, sich von ihrem »schweren Krankenlager« zu erheben, um – wie die Chronik etwa zur gleichen Zeit berichtet – erneut die Leitung aller Gettosuppenküchen |335| zu übernehmen. Ihr Ersatz auf dem Posten, eine nicht namentlich genannte Frau, hatte, wie man es ausdrückte, aus »politischen Gründen« zurücktreten müssen.
    Vorn am Pult verklangen die heiligen Worte, und die Versammlung brach auf, um aus dem heiligen Raum unter den hohen weißen Himmel zu treten, der gleichsam ein gewaltiges Loch bildete, in das hinein alles Licht flutete. Nur ein paar hundert Meter trennten das Präventorium von dem neuen Wohnsitz des Ältesten, in dem ein »spartanischer« Empfang mit Brot und Wein und einer Vielzahl von Geschenken stattfand.
    *
    Das Bild wurde von Mendel Grossman aufgenommen. Grossman gehörte zu den fünf, sechs Fotografen, die beim Büro für Archiv- und Bevölkerungsstatistik angestellt waren. Unter anderem nahm er die Fotos für die Arbeitskarten auf, die sämtliche Gettobewohner vom Sommer 1943 an stets bei sich zu tragen hatten. In der Art, wie dieses Bild arrangiert, ausgeleuchtet und mit einer leicht verzögerten Belichtung entwickelt wurde, unterscheidet es sich kaum von selbigen, so dass die Personen auf dem Foto aussehen, als träten sie aus ihren Bewegungen heraus, so wie andere Menschen aus ihren Kleidern steigen.
    Regina Rumkowska
, mit gestrecktem Hals und breitem, doch ängstlichem Lächeln, so als stünde sie hinter einer zersprungenen, vielleicht auch zerschmetterten Glasscheibe und versuche panisch, jemandem auf der anderen Seite ihr Wohlwollen zu bekunden;
    Chaim Rumkowski
, unterwegs zum Mittelpunkt des Bildes, die eine Hand unbeholfen ausgestreckt zu etwas wie einer segnenden oder versöhnlichen Geste;
    und
Stanisław Rumkowski
, der Sohn: ausgestattet mit Kippa und dem von Mosze Karo geschenkten Gebetsschal, in der Hand eine Kerze.
    Nur ist es keine Kerze (das sieht man nun), es ist ein Vogel, der von seinen Fingern auffliegt und aus dem Bild entschwindet, so rasch, dass ihm die Kamera nicht folgen kann. Und hinter den dreien, auf dem, |336| was in einem Fotoatelier das Kulissenbild oder vielleicht ein kunstvoll drapierter Vorhang gewesen wäre, wird ähnlich einem Brustkorb oder dem Säulengang eines eingestürzten Palastes Stück für Stück das Gitter jenes Käfigs sichtbar, der sie alle gefangen hält.

|337| III
Die letzte Stadt
    (September 1942 – August 1944)

 
    |339| Es hatte eine Bühne gegeben. Auf der Bühne ein Getto. Sogar Stacheldraht um die Bühne hatte es gegeben, der klarmachte, wo das Getto begann und wo es endete. Ein Schauspieler ging in den Kulissen umher, hob den Draht an und wies und zeigte. »Hier ist der Draht. Versucht nicht, daran vorbeizukommen, denn dann steckt ihr in der Patsche.
Versucht ihn auch nicht mitzunehmen, denn dann steckt ihr noch tiefer drin …!
« Und das Publikum im Kulturhaus brüllte vor Lachen. Nie zuvor hatte Regina Rumkowska ein Publikum derart lachen hören wie damals, als dessen kleine Welt von einer Truppe drittklassiger Revueschauspieler vorgezeigt wurde. Dann ließ man von der Decke Figuren an Schnüren herab; einfache Pappfiguren, die Rückseite unbemalter Karton. Regina erkannte sie alle wieder, obgleich die Gesichter so klobig gezeichnet waren, dass man sie kaum unterscheiden konnte. Da fuhr der Präses in seinem Wagen; da ging Polizeichef Rozenblat Patrouille, den Schlagstock hoch erhoben, hier kam Viktor Miller,
der Gerechte
, sein weißer Arztkittel umflatterte die Holzprothese, und dort saß Richter Jakobson in seinem Gerichtssaal, mit nickendem Kopf und den Hammer schwingend, während reihenweise Diebe und Übeltäter vor den hohen Schranken des Gerichts vorbeiparadierten.
    Über allen aber hing ein einziges GESICHT. Das Gesicht war glattrasiert, das dunkle Haar mit Pomade glattgestrichen und das Lächeln offen und unverstellt wie das eines Kindes. Und auf der Bühne darunter versammelte sich ein Chor, Schauspieler für Schauspieler kam hinzugeeilt, sie hakten einander unter und stimmten an:
    Gertler der najer kajser
    Er is a jid a hejser
    Er zugt inds zi zi gejbn
    Man sol es nor darlejbn
    |340|
Pojlen baj dem jeke
    Men sol efenen di geto
9
    Gertler …?!
Natürlich ging es in dem Lied nicht um Gertler! Regina begriff nicht einmal, wie sie einen derart respektlosen Gedanken fassen konnte. Ihr Gatte war schließlich der Präses des Gettos, und die Schauspieler auf der Bühne

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