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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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eine Lehranstalt, die von Talmud-Studenten aus ganz Polen besucht worden war. Am Tag, bevor die gedungenen Mordbrenner kamen, hatten die Deutschen fast alles an Wert aus der Synagoge abmontieren und fortbringen lassen – von den Menorot über Kronleuchter bis zu den Lesepulten. Auch die Tora-Schränke hatten sie geleert. Der Kantor |322| der Synagoge aber hatte erkannt, was bevorstand, und es war ihm gelungen, einige der wertvollsten Schreine unter einer Steinplatte vor der Fassade zu verstecken. In aller Heimlichkeit hatte man die Bücher später ins Getto gebracht.
    Mosze Karo war ein ruhiger, friedfertiger Mann, der sich langsam und mit großer Würde bewegte. Auch sein Gesicht zeigte unablässig denselben starren Ausdruck des Wohlwollens, den er allen, die mit ihm sprachen, entgegenbrachte und der sich nicht einmal dann veränderte, so glaubte Staszek, wenn er im Bett lag und schlief. Doch ab und an schien selbst Karo von innerer Unruhe ergriffen. Sein Blick wurde leer und nach innen gewandt, und seine sonst so sanfte versöhnliche Stimme klang plötzlich hart und ängstlich mahnend.
     
    In meiner Not und Misere denke ich oft an unseren Aufenthalt hier im Getto –
    Ich denke an all die heiligen Orte, die sie zerstörten, dass sie uns zwingen,
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zu essen, und uns nicht länger erlauben, die Sabbatgebote einzuhalten. Eins aber können sie uns nicht nehmen – die Lehre des Talmud und die heilige Weisheit der Propheten.
    »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht …«
    So spricht der Herr, und wieder und wieder hat er sein Volk derselben Härte ausgesetzt, hat es gestraft, weil es seinen Geboten nicht folgte, hat die Städte seines Volkes vernichtet und es in die Wüste getrieben.
    Doch wie schwer die Prüfungen auch waren, die er uns auferlegte, stets hat ein Rest überlebt und Jerusalems Mauern aufs Neue errichten können. Dieser Rest war der Glaube. Der Prophet Jesaja hat es gewusst. Deshalb taufte er seinen Sohn Shear Jaschuw – der Rest, der wiederkehrt. Auch unser hochgeliebter Herr Präses weiß das. Er, der Demütigste von allen, weiß, wie es ist, ein bloßes Werkzeug genannt zu werden.
    Deshalb hat er beschlossen, dass alles, was an Macht noch vorhanden ist, auf dich übertragen werden soll, du sollst dieser Rest sein.
    Also wird dein Name Schuw sein, Jener, der wiederkehrt, den nichts und niemand vernichten kann, der uns alle überleben wird –
     
    |323| Staszek dachte intensiv nach über das, was Mosze Karo soeben gesagt hatte. Doch vor allem dachte er an das, was Mosze Karo über den Herrn Präses als bloßes Werkzeug gesagt hatte, und ohne Papier und Stift zur Hand zu haben, zeichnete er sich selbst auf einem hohen Thron sitzend und seinen Vater hilflos zu seinen Füßen kriechend. Und der Anblick des mächtigen Vaters in dieser unterwürfigen Stellung gab ihm ein Gefühl so tiefer Befriedigung, dass er erst wieder zum Leben erwachte, als Mosze Karo – nun erneut ein ganz normaler, bescheidener Mann, der die Gittertür einklinkte und verschloss und den Vorhang vor den heiligen Büchern zuzog, die man ihn beauftragt hatte vorzuführen – mit seiner ganz gewöhnlichen Stimme sagte, er müsse den Wächtern die Schlüssel zurückgeben.
    *
    Dann geschah natürlich das, von dem alle wussten, dass es geschehen würde, und was jedermann hatte voraussehen können. Auch der Judenälteste wurde von den Behörden nach Litzmannstadt geholt.
    Als Regina den Bescheid erhielt, stand sie völlig reglos da, so als wäre alles um sie herum, einschließlich der Luft, die sie atmete, plötzlich zu Glas geworden.
    Der Herr Präses bat mich insbesondere auszurichten, dass keine Gefahr für ihn bestehe
, sagte Doktor Miller, der den ganzen Weg vom Sekretariat zu der neuen Wohnung in der Łagiewnicka gefahren war, um die Nachricht zu überbringen.
Es ist nicht wie bei Gertler. Die Gespräche mit den Behörden werden ausschließlich um die Lebensmittelverteilung gehen.
    Staszek aber sah deutlich, wie Regina zusammenzuckte bei den Worten:
Es ist nicht wie bei Gertler.
    *
    Die meisten der verschiedenen Köpfe des Präses hatten mit seiner Amtsausübung zu tun. Diese Köpfe hatten stierblickende Augen, und die Haut unter Wangen und Kinnfalten war starr und unbeweglich, als wäre sie aus Gips geformt. Doch gab es auch Köpfe, die rund waren wie |324| der Mond, mit Augen wie schmale Chinesenschlitze und einem offenen Mund, der heimtückisch lächelte, als säße in der Mundhöhle jemand bereit, um herauszuspringen und

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