Die Elenden von Lódz
die Silhouette von Gertlers schlankem Körper aus den Kulissen auf, und er fragte mit ironischer Stimme:
Warum hast du vor, das Getto zu verlassen, Ruchla, weißt du denn nicht, dass du es nie mehr so gut haben wirst wie hier …?
Sie sieht, wie er den Rauch weltmännisch aus den Nasenlöchern bläst, dann beugt er sich vor und drückt die Zigarette im Aschenbecher aus, den sie ihm hingestellt hat, und fügt in sachlichem, nüchternem Ton, der sie an Benji erinnert, hinzu (und ihrer beider Füße sind noch immer an den Sesselbeinen festgebunden):
Er wird keinen Einzigen von euch schonen, Frau Regina, nicht einen Einzigen; er wird euch allen den Garaus machen …
Und es ist das KIND, von dem er jetzt redet. Daran besteht kein Zweifel. Er meint das KIND.
|359| Als erstes Zeichen der neuen, nun anbrechenden herrlichen Zeiten ließen die Behörden, kaum drei Monate nach der
szpera
-Aktion, eine große
Industrieausstellung
eröffnen, auf der die zu diesem Zeitpunkt existierenden 112 Getto-Ressorts ihre formidablen Produktionsergebnisse präsentierten.
Das nunmehr »sanierte« Kinderkrankenhaus an der Hanseatenstraße 37 war zum Ausstellungslokal umfunktioniert. In den Patientensälen und Aufnahmeräumen des Erdgeschosses zeigten Vitrinen und Schaukästen die verschiedensten Gettoprodukte, und an der Wand hatte jemand ein großes Spruchband aufgehängt, das in großen schwarzen Lettern die berühmte Parole des Ältesten auf Deutsch und Jiddisch verkündete: UNSER EINZIGER WEG IST – ARBEIT!
Ringsum Bildmontagen aus den Werkstätten:
Junge Frauen an langen Arbeitstischen, jede mit einem Bügeleisen und einer Stoffbahn in den Händen. Die Fotos der Frauen waren in Diagramme eingefügt, die vom ständig steigenden Produktionstempo in den gettoeigenen Schneiderwerkstätten berichteten. Je weiter die Säulen zum oberen Rand des Bildes aufstiegen, desto mehr wurde von dem darunterliegenden Bild freigelegt: Tisch um Tisch mit jungen Frauen, die Köpfe über Bügeleisen und Singer-Nähmaschinen gebeugt, alles in endloser Wiederholung:
Trikotagenabteilung:
– Militärsektor: 42 880 Stück.
– Zivilsektor: 71 028 Stück.
Korsett- und Büstenhalterfabrik: 34 057 Stück.
Drei Jahre Sklaverei, drei Jahre Unterwerfung unter eine Gewaltherrschaft, die nichts anderes im Sinn hatte als die totale Liquidierung des Gettos: Natürlich musste das gefeiert werden.
|360| Die Ausstellungseröffnung fand in zwei Etappen statt. Der erste, offizielle Teil bestand aus »den Reden etlicher Bereichsdirektoren«, gefolgt von der Besichtigung der Ausstellungsräume. Danach wechselte die Veranstaltung ins Kulturhaus, in dem das Programm wie folgt weiterging: 1) musikalisches Impromptu; 2) Rede und Medaillenvergabe durch den Präses des Gettos; 3) Bankett mit Festmenü, zu diesem Anlass eigens komponiert von
Frau Helena Rumkowska
. Das Bankett und der Auftritt im Kulturhaus bildeten den inoffiziellen Teil des Programms. Ihm waren wochenlange Vorbereitungen vorausgegangen. Da dieses Bankett als
gemischte
Veranstaltung gedacht war – das heißt: der Besuch hochgestellter Persönlichkeiten aus der deutschen Gettoverwaltung oder der Polizeibehörde war durchaus denkbar –, durfte nichts dem Zufall überlassen bleiben.
Wie das Kinderspital des Ältesten, ja, wie überhaupt alle Krankenhäuser des Gettos, hatte kürzlich auch das Kulturhaus eine gründliche Sanierung erfahren. Die Kulissen der Gettorevue des Herrn Pulaver waren abgebaut und aus dem Haus geschafft worden, stattdessen hatte man hohe Fahnengruppen aufgestellt, für jedes Ressort eine. An der Wand hinter ihnen hing nun ein großes Porträt des Präses. Es war die klassische Variante: Ein lächelnder Rumkowski, den Arm voller Blumen, begrüßte all die glücklichen, wohlgenährten Kinder des Gettos. Das Foyer wurde sodann mit Girlanden und Blumenarrangements geschmückt, hergestellt aus Stofffetzen und Papierresten vom gettoeigenen Altmaterialressort, und als Krönung abschließend ein weiteres Spruchband entrollt:
UNSER EINZIGER WEG IST …!
Es ist ein Tag mit großer Kälte und starkem, böigem Wind. Der Himmel ist grau wie Zement, und Schnee fegt über die Dachfirste. Unter dem Oberleitungsnetz der Straßenbahnen in der Łagiewnicka fährt eine lange Reihe
droschkes
vor, deren Verdecke sich im Takt mit den böigen Windstößen wie Münder öffnen und schließen.
Die hier eintreffen, bilden das Führungspersonal der einzelnen
Ressort
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