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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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auf. Darin lagen mehrere der kleinen bröckeligen Honigplätzchen, die Frau Koszmar beim letzten Empfang serviert hatte.
    Für eine Weile vergaß sie die Apothekengläschen und starrte die Zeichnungen an. Eine davon stellte Chaim dar, der statt Armen und Beinen drei haarige Auswüchse am Körper hatte. Das Gesicht war ein rotgeschwollener Kürbiskörper, der durch die Haare, die ihm bis zur Taille reichten, einen seltsam femininen Anstrich erhielt. Neben dem Präseskörper war auch sie selbst dargestellt, die Königinnenkrone auf dem Kopf, jedoch von einem roten Flammenmeer umgeben.
    Da kam ihr der Gedanke, dass die Apothekengläschen Gift enthalten mussten und die kleinen Honigkekse vergiftet waren und dass der Junge diese, wenn niemand es sah, erneut auf den Tisch legen wollte. Die Zeichnung von ihrem Kopf, umkränzt von lodernden Flammen, war natürlich ein Bild, das sie brennend in der Gehenna zeigte.
     
    |357| Selbstverständlich war es so. Genau das war das Geheimnis:
    Das Kind hatte die Absicht, sie alle umzubringen.
    Doch woher hatte es das Gift?
     
    Sie legte Chaim die Beweise vor. Der aber blickte von den Apothekengläschen zu den Zeichnungen, ohne einen Zusammenhang zu erkennen.
     
    Habe ich es nicht schon immer gesagt? Ein begabtes Kind.
    Vielleicht verbirgt sich in unserem Sohn eine echte Künstlernatur?
     
    Es war Sabbat. Sie hatte die Kerzen angezündet und den Segen über die beiden Brote gesprochen, und der Junge saß am Tisch, den Blick wie stets in dem ihren verankert.
    Chaim sagte die Danksagung und das Lob der Frauen und anschließend mit besonderer Innigkeit
jesimcha elohim ke-efraim wechi menasche
, und fügte in dem pompös belehrenden Ton hinzu, den er stets benutzte, wenn er vor dem KIND sprach:
… so wie Jakob, als er im Sterben lag, zu seinen Söhnen Efraim und Manasse gesagt hat, sie sollten zu Vorbildern für alle Juden werden, sollst auch du wachsen und streben, um ein Vorbild für alle Juden hier im Getto zu werden …
    Ihr fiel auf, dass Chaim nie anders zu ihr gesprochen hatte als auf diese erhabene, feierliche, schicksalsträchtige Weise. Auch der Sabbat – der einzige wirkliche, der einzige
lebendige
Augenblick, den sie gemeinsam hatten – war zur Bühne des Theatralischen und Toten geworden.
    Hier saßen sie nun, hinter ihren GESICHTERN verborgen, und Chaim war der PRÄSES und sagte zu seiner GATTIN, dass ihm auf Umwegen zu Ohren gekommen sei,
dass die Deutschen an der Ostfront schwere Rückschläge erlitten haben, und wenn der HERR, unser Allerhöchster, es so will, wird es vielleicht bereits im Frühjahr zum FRIEDEN kommen;
und das KIND war die BOSHEIT selbst, wie es so dasaß und BERECHNENDE BLICKE von der GATTIN zum VATER wandern ließ; und der VATER lächelte und sagte, er erinnere sich, wie er in der Kammer auf der Karola Miarki gelegen und gelitten habe wegen all der Kinder, die er aus dem Getto habe wegschicken müssen, doch dass im selben Augenblick ein ENGEL, gesandt vom HERRN, dem Allerhöchsten, erschienen |358| sei und zum PRÄSES gesagt habe –
ja, zu Mordechai Chaim Rumkowski PERSÖNLICH hat der ENGEL DES HERRN gesagt, hier im Getto soll das Haus errichtet werden, und wenn auch nur einer von euch übrigbleibt, sollt ihr dennoch fortfahren, euer HAUS zu errichten;
und als er, getröstet von diesen Worten, darauf aus diesem seinem LEIDENSTEMPEL getreten sei, sei er angerufen worden, ja, er, Rumkowski, sei tatsächlich
PERSÖNLICH
von Gauleiter Greiser angerufen worden, und dieser habe gesagt,
ebenso wie, sagen wir, der Freistaat Danzig einst unter dem Schutz der ihn umgebenden Mächte existiert hat, könnte sehr wohl auch dieser Judenstaat in den jetzigen Grenzen des Dritten Reiches existieren;
ja, Herzls eigenen Ausdruck habe Gauleiter Greiser benutzt,
euren Judenstaat
, habe er gesagt, und warum sich erst die Mühe machen, diesen Staat im Lande Israel zu errichten, wenn alles
Menschenmaterial
bereits hier im Getto vorhanden sei, wie auch alle Maschinen und Ausrüstungen? Alles komme ja dennoch auf die Arbeit an, die man bereit sei auszuführen. Ja, das hatte Gauleiter Greiser zu Rumkowski gesagt (sagte Chaim), und dann zwinkerte er dem Kind zu (und das Kind zwinkerte zurück); und da erhob sich Chaim vom Tisch und sagte, er habe die Absicht, sich ein wenig hinzulegen, um die Sabbatruhe zu genießen, und ob der Junge vielleicht mitkommen wolle; und dann standen sie beide auf und gingen in ihr ZIMMER. Und wie in einem Gangsterfilm im Kino Bajka taucht nun

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