Die Elenden von Lódz
»die Kinder zu retten«, ergeben hatte.
*
Nur Dummköpfe glauben beharrlich daran, dass sie mit den Behörden ins Gespräch kommen können!
, hatte Benji immer wieder gesagt, wenn er auf den Plätzen zu den Leuten sprach.
Der Tod bleibt Tod, auch wenn er eine Uniform trägt!
Sie würde alles dafür geben, ihren Benji zurückzubekommen, wenn auch nur für wenige Stunden.
Nachmittags geschah es zuweilen, dass Gertler seine vielen dringlichen Pflichten im Stich ließ, um mit ihr in dem Zimmer der neuen Wohnung Tee zu trinken, das nach Absprache mit Chaim das
ihre
war. Und Frau Koszmar servierte den Tee in dem richtigen Service, so wie sie es in der guten alten Zeit getan hatte, als sie noch »richtige« Empfänge hatten.
Und alles hätte auch ganz richtig sein können. Wenn da nicht das Kind gewesen wäre.
Die ganze Zeit über, in der sie sich mit Herrn Gertler unterhielt, strich es an den Wänden entlang.
Sie gab Frau Koszmar den Auftrag, das Kind zu beschäftigen, doch nur wenige Minuten später war der Junge zurück. Sie hörte seinen schnaufenden, keuchenden Atem hinter ihrem Sesselrücken und sah, dass er sich in den engen Zwischenraum zwischen Sitz und Boden geschoben hatte. Dort, direkt unter ihr, hatte er ihrer beider Schuhe – Herrn Gertlers und ihre – mit ein paar harten Schnurenden an den Sesselbeinen festgebunden.
Die Königin kann nicht laufen!
Die Königin kann nicht laufen!
– schrie er mit einer Stimme, die ihr wie eine Kopie von Benjis Stimme erschien. So hatte Benji ihr zugeschrien, als sie klein waren: mit einer derart schrillen Stimme, dass sie sich fast überschlug.
Einen Augenblick lang wurde ihr ganz schwarz vor Augen.
|355| Sie erinnerte sich nicht, ob sie nach Frau Koszmar gerufen hatte oder ob Frau Koszmar von selbst hereingestürzt gekommen war. Im nächsten Moment jedenfalls war der Junge fortgeschafft, und Gertler stand betreten im Flur und trommelte mit den Fingerspitzen verunsichert auf seiner Hutkrempe:
Und was Ihren Bruder angeht, Frau Rumkowska, so versichere ich Ihnen, dass ich mein Möglichstes tun werde, um von den Behörden Bescheid zu erlangen, wohin man ihn gebracht hat!
*
Sie hatte natürlich begriffen, dass Chaim dieses Kind auf eine Weise liebte, die von anderer Art war als die Liebe eines Vaters zu seinem Kinde.
Aber was war das dann für eine Art Liebe?
Er konnte Stunden in dem Zimmer zubringen, das er für sich und den Jungen gewählt hatte und in dem er saß oder lag und ihn fütterte und streichelte. Doch kam es auch vor, dass das Kind bei ihm nur Missfallen zu erregen schien und er nichts anderes tat, als es auszuschelten und zu prügeln. Das Seltsame war, dass sich das Kind ohne die geringste Schwierigkeit auch in die Schläge des Präses fand. Auch dessen unerfreuliche Launen und sein ständiges Misstrauen gegen alles und alle nahm das Kind in seinen Charakter auf.
So wurde der Junge in allem ein Abbild des Vaters. War der Älteste zum Verwöhnen nicht zur Stelle, lag das Kind verhätschelt und schwer erträglich im Bett, die Zeichnungen, die es von seinem geliebten Vater angefertigt hatte, auf Brust und Bauch drapiert, und wimmerte
Wo ist mein Präses, wo ist mein Präses
, bis sie es nicht mehr ertrug und den Wunsch hatte, sie könnte hineingehen und ihm ein für alle Mal den Hals umdrehen.
Am Ende aber gingen die Türen der Wohnung, und der Älteste war zurück, und die beiden konnten dort drinnen von Neuem liegen, umschlossen von ihrer perversen Liebe.
Die beiden.
|356| Und sie – die Abgewiesene, Ausgestoßene – sehnte sich nur noch nach jemandem, der sie von hier wegbringen konnte.
*
Aber das Kind hatte dennoch ein eigenes Leben.
Wie widerwärtig es auch erscheinen mochte, so verfügte es dennoch über einen eigenen Willen.
Ein Beweis dafür waren die Zeichnungen.
Hatte der Junge die Zeichnungen nicht um sich im Bett verstreut, bewahrte er sie in einer truhenähnlichen Kiste auf, die er von Chaim erhalten hatte und mit der er sehr geheimnisvoll tat.
Eines Tages, als Mosze Karo den Jungen gerade unterrichtete, holte sie die Kiste aus ihrem Versteck unter dem Bett hervor und brach das Schloss mit einem Schraubenzieher auf.
Sie hielt das für ihr Recht.
Im Inneren der Kiste befanden sich nicht nur Papier, Bleistifte und Buntstifte, sondern auch eine Ansammlung kleiner Apothekengläschen mit unbestimmtem Inhalt und mehrere Päckchen aus Stoff oder Papier, zugebunden mit dicker Schnur. Sie wickelte die Päckchen
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