Die Elenden von Lódz
wendet sich von Neuem den erwartungsvollen Gestalten auf der Treppe zu, doch mit einem Ausdruck im Gesicht, als habe er zu seiner Bestürzung im selben Augenblick vergessen, was er sagen wollte. Das junge Mädchen mit den Medaillen legt die Verwirrung so aus, dass sie mit dem Tablett nun tatsächlich dort vorn erwartet wird. Aus dem Publikum erklingt ungeduldiges Gemurmel, doch wird es von einem der Fanfarenspieler beendet, der in seinem Eifer einen langen, sacht fallenden Ton über der Menge erschallen lässt. Als hätte der Klang des Blechinstruments auch einen Ton in ihm selbst angeschlagen, hört man den Präses plötzlich skandieren:
ARBEIT, ARBEIT, ARBEIT!
Stets und ständig hab ich’s euch gesagt:
Arbeit ist der FELS ZIONS!
Arbeit, das FUNDAMENT MEINES STAATES!
ARBEIT – HARTE, ZÜCHTIGENDE ARBEIT –
Vom Saal her kann man sehen, wie oben alles in die Luft fliegt: Papier, Tablett und Medaillen – in ausgebreiteter Fächerform, die ihren Ausgangspunkt an der mit rhetorischem Schwung erhobenen Hand des Ältesten hat. Das Blatt Papier flattert langsam zu Boden, dem Tablett hinterher, das nach einem galanten Bogen durch die Luft mit dumpfem Knall aufschlägt, gefolgt von den Medaillen an ihren Bändern, die gleich kleinen, wimpelgeschmückten Raketen im Umkreis niedergehen.
Mitten im Medaillenregen begibt sich der Älteste auf alle viere und kriecht auf der Jagd nach seinem verlorengegangenen Manuskript auf dem Boden umher. Hinten im Saal brechen etliche in Lachen aus. Zunächst diskret: hinter vorgehaltener Hand. Dann (als weitere einstimmen) immer offener.
Zwei Männer der Ordnungspolizei haben sich, um zu helfen, in Richtung Podium begeben, doch werden sie von Herrn Gertler gestoppt, der abrupt von seinem Platz in der ersten Reihe aufsteht und sagt:
Also, das sieht doch jeder;
mit dem Mann ist es völlig vorbei! –
|364| Im selben Augenblick fliegen die Türflügel zum Foyer krachend auf, und Amtsleiter Biebow kommt durch den Mittelgang des Saales geschritten, Ordonnanz und Leibwächter im Gefolge. Zackige Kommandorufe und schwere, knallende Stiefeltritte veranlassen die Funktionäre der ersten Reihe, zu ihren Plätzen zurückzuhasten, wo sie nun mit eingezogenem Kopf hocken, während Biebow – der die Situation mit in die Hüften gestemmten Armen eine Weile betrachtet hat – nun entschlossen auf die Bühne steigt, sich den noch immer auf allen vieren kriechenden Ältesten greift, ihn in aufrechte Stellung bringt und mit behandschuhter Hand links und rechts ohrfeigt.
Rumkowski, der noch immer nicht recht zu begreifen scheint, mit wem er es da zu tun hat, starrt nur vor sich hin, während ihm der Speichel aus den Mundwinkeln tropft.
Biebow liest die über den Bühnenboden verstreuten Diplome und Medaillen auf und drückt sie dem Ältesten an die Brust, schlingt dann seine Arme um ihn, als wollte er alles an Ort und Stelle halten (Diplome, Medaillen und den Ältesten selbst):
Rumkowski, Sie sind jetzt ein alter Mann
, hört man ihn sagen, und für diejenigen, die in der ersten Reihe sitzen und mit ängstlich gespitzten Ohren lauschen, klingt es, als murmele er fast liebevoll.
Sie sind ein alter Mann, der einer überholten Zeit angehört, Rumkowski.
Sie glaubten, Sie könnten sich Macht und Einfluss erkaufen, könnten Ihre perversen, schmutzigen Horste in den Mauern einer STÄRKEREN MACHT ausbauen, um dann weiter zu lügen und zu betrügen, wie es Menschen ihrer Sorte in der Geschichte so oft getan haben und wie es ihrer Natur entspricht.
Aber ich sage Ihnen eins, Rumkowski, diese Zeit ist nun vorbei. Diese Zeit ist endgültig VORBEI.
Worauf es jetzt ankommt, ist Entschlossenheit, Mut und Kompetenz.
Die letzten Worte sagt er nicht zu Rumkowski, sondern ans Publikum gerichtet. Und lächelt dabei: ein Lächeln, das Übereinstimmung und zugleich Nachsicht ausdrücken will.
|365| Und offenbar gelingt ihm sein Vorhaben, denn plötzlich beginnen alle zu lachen (außer Fräulein Fuchs, die völlig aufgelöst wirkt, und Frau Regina Rumkowska, die an ihrer Handtasche hantiert, als suche sie darin einen Platz, um sich zu verstecken). Alle im Saal lachen, von den Amtsträgern in der ersten Reihe bis zu den Vorarbeitern und Maschinenmeistern weit hinten im Saal. Einige heben sogar die Arme und beginnen zu applaudieren, lassen Beifallrufe ertönen, als befänden sie sich in einer simplen Varietévorstellung, und als erst die Spannung aus Armen und Beinen gewichen ist, setzen
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