Die Elenden von Lódz
Ellbogen auf die Platte gestützt. Ihm gegenüber saß ein
ganef
von vielleicht elf Jahren mit kleinen, schmalen, frechen Augen. Augen, die an den ihren kleben blieben, im selben Augenblick, als sie über die Schwelle schritt, und zugleich öffnete der Junge den Mund und ließ den Präses ein weiteres Stück der zimtbestreuten, pudergezuckerten Äpfel hineinschieben, die Frau Gertler gebacken und die Chaim sicherheitshalber noch in ein Schälchen frischer Schlagsahne getaucht hatte.
|352| Vom ersten Moment an hasste Regina dieses Kind, mit einem stillen, dunklen, irrationalen Hass, den sie sich nie eingestehen würde, noch viel weniger zu verstehen oder zu erklären suchte.
Nicht aufgrund dessen, was das Kind sagte oder tat. Es genügte, dass es überhaupt da war. Etwas, das eigentlich in ihr sein
müsste
, existierte jetzt außerhalb von ihr, und es war nicht ihre Leibesfrucht, und von dem Moment an, als der Blick des Kindes das erste Mal ihr Gesicht traf, war er keine Sekunde mehr von ihr gewichen. Sie konnte nicht ertragen, dass man sie auf diese Weise ansah. Plötzlich war das Lächeln, das sie als eine Art Schirm stets vor sich hertrug, um das Eindringen anderer zu verhindern, keinerlei Schutz oder Hilfe mehr.
Aber
wen
sah der Junge?
Und
w as
sah er?
*
Nach der Aufhebung des Ausnahmezustands hatten die Behörden die Familie des Ältesten vom ehemaligen Verwaltungsgebäude des Zentralkrankenhauses in ein paar recht einfache Zimmer ein paar Wohnblöcke weiter die Łagiewnicka hinauf ziehen lassen. Ihren neuen Räumen direkt gegenüber lag eine der wenigen Apotheken des Gettos, die noch immer in Betrieb waren und die der Älteste als
dietka
benutzte, um ansonsten rezeptpflichtige Waren, wie Milch und Eier, zu erhalten. Die Apotheke führte auch die Nitroglycerin-Tabletten, die er »wegen seines Herzens« nahm.
In den ersten Monaten nach der Ankunft des Kindes klagte er unablässig über Schmerzen in der Brust und erklärte, das Einzige, was ihm ein wenig Linderung zu verschaffen vermochte, war, wenn er sich ein Weilchen zu dem Kind legen könnte, und Regina lag dann stundenlang |353| wach und lauschte dem halberstickten Geflüster der beiden und Chaims übertrieben aufgeräumtem Lachen.
Leute gingen in der neuen Stadtwohnung ein und aus, ebenso wie zuvor in ihrer alten Behausung in dem nun zerstörten Krankenhausgebäude. Auch Dawid Gertler kam mit Frau und Kindern weiterhin zu Besuch. Doch war es offensichtlich, dass das Verhältnis zwischen dem Ältesten und dessen früherem Protegé nicht wie zuvor war. Gertler verpasste keine Gelegenheit, um zu unterstreichen, dass es allein sein Verdienst war, dass ein
optgesamt
errichtet werden konnte; dass er während der bedauerlichen Abwesenheit des Präses nicht nur die schwierigen Verhandlungen mit der Gestapo selbständig führen, sondern auch
aus eigener Tasche
bezahlen musste, was für den Freikauf jener, die noch nicht von der Liste gestrichen waren, erforderlich war:
Nicht ein Złoty aus öffentlichen Mitteln stand zur Verfügung.
Chaim hatte zunächst versucht, sich zur Wehr zu setzen, indem er einen scherzhaften Ton anschlug:
Nehmt euch in Acht vor diesem Mann!
, konnte er beispielsweise sagen und Gertler den Arm väterlich beschützend um die Schultern legen.
Und Gertler gab sich den Anschein, als fände er sich mit der Zurechtweisung ab, doch jeder wusste, selbst wenn der Älteste es nicht vorgezogen hätte, in den Tagen, als
das Getto seine schlimmste Krise durchlebte
, unsichtbar zu bleiben, hätte er doch niemals mit den Behörden verhandeln können. Nur Gertler hatte diese Macht. So war es immer gewesen. Was hatte der Präses des Gettos dem jemals anderes entgegenzusetzen gehabt als seine ewig langen, selbstverherrlichenden Reden?
Doch als die Audienz vorüber war, sah Regina auch, dass der junge Polizeichef zwei Leute seiner eigenen Schutztruppe vor dem Tor zu ihrer neuen Wohnung postiert hatte. Zwei zusätzliche Leibwächter zu den sechs, die der Herr Präses bereits hatte. Von nun an, das wusste sie, würde alles, was sie oder Chaim taten, direkt an Gertlers Kommandozentrale berichtet werden, die ihrerseits der Gestapo in der Limanowskiego Mitteilung machte. Obgleich sie sich diesen Gedanken nur ungern gestattete, war eben genau das auch der Grund gewesen, weshalb Gertler sie persönlich so oft besucht hatte. Der Älteste war unter Vormundschaft gesetzt. Das war die einzige Konsequenz, die all |354| seine Anstrengungen, um jeden Preis
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