Die Elenden von Lódz
auch andere ein und beginnen, erleichtert oder voller Übermut, mit den Füßen zu stampfen, zu buhen und zu schreien.
Doch das hier ist kein Varieté. Vielleicht dauert es einige Minuten, bevor die Leute erfassen, dass es tatsächlich der
Herr Amtsleiter
ist, der dort den Ältesten der Juden im Arm hält und den Beifall des Publikums einheimst. Ein Musiker des Fanfarenzugs kommt so weit zur Besinnung, dass er einsieht, es gibt nur einen Ausweg aus dieser latent lebensgefährlichen Situation, also ergreift er die Initiative und stimmt die ersten Töne des
Badenweiler Marsches
an:
Vaterland, hör’ deiner Söhne Schwur:
Nimmer zurück! Vorwärts den Blick!
Was danach geschah, ist unklar. Angeführt von den Männern der neuen Zeit, allen voran Gertler und Jakubowicz, die des ausgedehnten Zeremoniells auf der Bühne überdrüssig waren, hatte sich die Führungsgilde ins Foyer hinausbegeben, wo das Herrliche Büfett aufgetischt stand.
Das Herrliche Büfett war bereits in aller Munde gewesen, bevor es überhaupt vorhanden war. Die Frage ist, ob das Herrliche Büfett nicht mehr diskutiert, in allen Einzelheiten ausgemalt, gewissermaßen schon jetzt gründlicher studiert und probiert worden war, als es die Ausstellung je werden würde.
Dass die Behörden überhaupt zugestimmt hatten, Prinzessin Helena ein Büfett ausrichten zu lassen, hatte seinen Grund darin, dass auch die im Getto produzierten Lebensmittel vorgestellt werden sollten. Hier gab es also Wurst und Pökelfleisch aus den gettoeigenen Fleischereien, |366| leider nicht koscher, solche Träume aber hatte man ohnehin seit langem begraben müssen; hier gab es Brot aus den eigenen Bäckereien; hier gab es sogar Konfekt und süße Küchlein mit Marmelade, von Shlomo Hercbergs in Marysin gelegener ehemaliger Obstkonservenfabrik gefertigt. Zu all dem wurde Rotwein in langstieligen Gläsern gereicht. Der Wein kam direkt aus Litzmannstadt und war ein
Geschenk
Biebows, die Gläser aber waren aus echtem Kristall und so kunstvoll auf Spiegeltabletts plaziert, dass die Herren, die nun gierig nach den Servierplatten langten, an die goldene Zeit zurückdenken mussten, als
di schejne jidn
so wie alle anderen im Café in der Piotrkowska sitzen konnten,
S zarlotka
aßen und Tee oder guten Rheinwein aus hohen Gläsern tranken.
Der Älteste schien nach all den Brandreden wieder aufgelebt zu sein und ging unter den Büfettgästen umher, gestützt auf das wenige, was von seiner Würde noch übrig war.
Die meisten im Kreis um Jakubowicz oder Gertler wandten ihm diskret den Rücken zu, sobald er in ihre Nähe kam. Andere ließen sich weniger lange nötigen. Bald hatte auch der Präses einen kleinen Trupp um sich geschart, unbedeutende Kanzlisten und Referendare, die nur darauf warteten, dass ein passendes Wort von seinen Lippen kam, ein Wort, das sich möglicherweise später gegen einen besseren Posten eintauschen ließ; und vielleicht lag es ja an der Konkurrenz – Männer wie Jakubowicz, Warszawski oder Gertler versammelten schließlich eine weitaus dichtere Schar um sich –, der Älteste jedenfalls war an diesem Abend ungewöhnlich freigiebig mit Zusagen und Versprechungen.
Sieh an, der Herr Schulz
…
!
, rief er aus, als er Doktor Arnošt Schulz mit Tochter am hinteren Ende des Herrlichen Büfetts erblickte:
Das, meine Herren …
, erklärte er dem Rest seines ihm rastlos und ängstlich auf den Fersen bleibenden Gefolges. (Nach dem Zwischenfall bei der Medaillenvergabe wagte ihn keiner mehr auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.)
Das ist Herr Professor Schulz – aus Prag, nicht wahr!?
–
der einzige meiner Ärzte, der es gewagt hat, mir offen und ehrlich seine Meinung zu sagen.
Sie sind ein Aufklärer, stimmt doch, Herr Professor Schulz?
|367| Věra Schulz sollte sich später deutlich an dieses erste und einzige Mal erinnern, als sie dem Vasallenkönig des Gettos von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, diesem selbsternannten Verwalter des Schicksals Hunderttausender hier ansässiger und zugezogener Juden.
Ein Automat
– schrieb sie in ihr Tagebuch –,
ein Mensch ganz ohne äußeres Leben, dessen energische Gangart, lautstarke Redeweise und unvermittelte, anscheinend gänzlich unmotivierte Handbewegungen von einem Mechanismus animiert zu sein schienen, der irgendwo in seinem Körper verborgen war. Das Gesicht tot, bleich und aufgequollen; die Stimme schrill wie eine Signalpfeife.
Mehrere Minuten stand der Älteste da und hielt
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