Die Elenden von Lódz
öffnen ließen. Im Inneren befanden sich die Karteikarten aller Gettoinsassen, teils alphabetisch nach Namen geordnet, teils nach der Wohnanschrift. Die Karteitrommeln wurden jede Nacht verschlossen und versiegelt, und es hieß, als Einziger neben dem Ältesten verfüge Rechtsanwalt Neftalin, der Leiter der Archivabteilung, über den Patentschlüssel. Morgen für Morgen schloss dieser die Trommeln feierlich auf. An langen Arbeitstischen rund um die ständig rasselnd rotierenden Trommeln saß der Rest des Archivpersonals und sortierte Briefabschriften und Protokolle in Kuverts und braune Archivordner.
Die vier Fenster des Archivsaales gingen auf die Marienkirche und die Brücke über die Hohensteinerstraße hinaus. Mit jedem Tag reichte das Licht der Sonne, die hinter der Brücke und den doppelten Turmspitzen am Himmel aufstieg, immer weiter in den Saal hinein, und die Markisen vor den Fenstern wurden tiefer und tiefer heruntergelassen, bis der gesamte Archivsaal in einem seltsamen dunkelgrauen, fast unwirklichen |383| Halbschatten lag. Morgens und abends jedoch waren die Markisen zurückgerollt, und von Neuem gab es keine Grenze zwischen dem großen Saal mit den Archivtrommeln und dem Platz mit der hohen Holzbrücke. Die Menschen, die auf der Brücke hinauf- und hinunterstiegen, strichen zuweilen so dicht vorüber, dass es aussah, als stünden sie im Begriff, den Archivsaal zu durchqueren.
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Nr. 1: Der Arbeiter FRIEDLÄNDER, DAWID (sechzehn Jahre), wird wegen Kartoffeldiebstahls zu vier Monaten ZUCHTHAUS verurteilt. Als Beweis dienen drei Stück Kartoffeln, bestimmt für die Küche Nr. 9 (Marysińska), die sich unrechtmäßig in der Hosentasche des Angeklagten befanden.
Nr. 2: Das Lehrmädchen KAHN, LUBA (neunzehn Jahre), wird wegen des Diebstahls von Garnrollen und Zwirn, Gesamtwert 45 Gettomark, zu drei Monaten ZUCHTHAUS verurteilt. Zwirn und Garnrollen wurden bei der Visitation unrechtmäßig eingenäht in den Schuhleisten der Beschuldigten gefunden.
Der Palast des Ältesten ist gebaut, um in alle Ewigkeit zu bestehen
, sagt Aleks und zeigt ihr die Kopie des Prozessprotokolls, das er gerade in eins der braunen Archivkuverts sortieren will.
Die Gerichtsentscheidungen einer Woche sind auf zwei Durchschlagseiten zusammengefasst; insgesamt neunzehn verhängte Urteile, alles betreffend, von Diebstahl und Einbruch bis zur versuchten Unterschlagung. Aleks aber ist derart empört, dass seine Hände zittern:
Was hat es für einen Sinn, eine Zuchthausstrafe von vier Monaten oder mehr zu verhängen, wenn man nicht daran glaubt, dass das Getto noch so lange besteht? Unterstützen wir mit diesem idiotischen Rechtswesen nicht nur noch das Bestreben der Behörden: uns hier hinter ihrem Stacheldraht festzuhalten, bis die Welt untergeht und wir Juden bis zum letzten Mann ausgerottet sind?
Nein, stehle nur deine Kartoffeln, armer Mann! Indem du deinen Hunger stillst, hast du wenigstens bewiesen, dass du ein freier Mensch bist!
|384| Aleksander Gliksman hat eine seltsame Art zu reden. Wenn er aufgebracht oder ihm eine Sache wichtig ist, schiebt er seinen Kopf vor, wie eine Schildkröte aus ihrem Panzer, und starrt Věra beharrlich und ausdauernd an, als fordere er sie auf, ihm zu widersprechen.
Eigentlich ist es ein Wunder, dass er noch nicht deportiert wurde, denkt Věra ein ums andere Mal. Sofern das Geheimnis nicht in seinen Händen steckt. Sobald Aleks den Fingerling angelegt hat, fahren die Archivdokumente schnell wie der Wind durch seine blätternden Hände. Etwas Schulbubenhaftes, Formelles, fast Feierliches prägt seine Art, zu zählen und Fakten zu bewerten. Als sie allein im Keller sind, zeigt er ihr im Vertrauen die Weltkarte, die er seit mehreren Jahren aus alter Makulatur zusammenfügt. Im Archiv wie überall sonst im Getto ist Papier streng rationiert, und eine Zuteilung wird jeder Abteilung nur dann bewilligt, wenn Rechtsanwalt Neftalin sie offiziell bei der Materialkanzlei beantragt hat. Gliksman indes hat in den Gewölben irgendwo aussortierte Register gefunden, aus der Zeit, als dieser Teil Polens der Verwaltung des zaristischen Russland unterstand: mit derben Schnüren umwickelte Dokumente, die schon derart lange in Zug und Feuchtigkeit lagen, dass sie zu Packen, dick wie Ziegelsteine, verklebt waren.
Auf mit alter kyrillischer Schrift dicht beschriebenen Dokumenten skizziert er nun mit groben Federstrichen, wie sich die russische Frontlinie seit Stalingrad entwickelt hat.
»Sechs hohe Generäle
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