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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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machen. Im Gegensatz dazu wirkten die auf dem Begräbnisplatz herrschenden Distanzen geradezu unfassbar; unfassbar jedenfalls, dass die Toten so viele geworden waren.
    *
    |378| Die Schreibmaschine stand noch auf dem kleinen Seitentisch, als sie sich nach dem Begräbniskaffee ins Krankenhaus begab, doch in dem Bett, in dem Rabbi Einhorn gelegen hatte, lag jetzt ein anderer Mann und sah sie mit blanken, ausdruckslosen Augen an. Neben ihrer Schreibmaschine stand die kleine metallbeschlagene Reisetasche mit dem Gebetsschal und den Büchern des Rabbiners. Im Nachhinein dachte sie mehrmals, was wohl passiert wäre, wenn sie die Tasche an diesem Tag nicht geöffnet hätte. So viele starben, und alle ließen unbrauchbare Dinge zurück. Am Ende verlor dieser Begriff völlig seinen Inhalt: Wie konnte man von hinterlassener persönlicher Habe sprechen, wenn nicht einmal mehr der Tod persönlich war?
    Gleichwohl öffnete sie die Tasche – vielleicht aus Respekt vor dem Alten. Im Inneren lag ein kleiner Zettel, geschrieben auf Deutsch und mit den Typen ihrer eigenen Schreibmaschine:
     
    Treffen Sie mich am Fuß der Holzbrücke, Ecke Kirchplatz /Hohensteinerstraße, Freitag 9.00 Uhr. Bitte die Schreibmaschine mitbringen!
    A. Gl.
     
    Mit diesem Brief, verfasst von einem wildfremden Menschen auf ihrer eigenen Schreibmaschine, begann das, was sie später in ihrem Tagebuch ihr
Unterirdisches Leben
nennen sollte.

 
    |379| An einem feuchten, nebelgrauen Morgen Anfang Februar 1943 trat sie also zum ersten Mal über die Schwelle des Palastes. Dort, wo das Getto endete und der Stacheldraht seinen Anfang nahm, hätte sich die hohe schwarze Holzbrücke fünf gewaltige Meter über der Straße erheben müssen, doch das Einzige, was man in dem Nebel von ihr sah, waren die Menschen, die sich am Fuß der Treppe drängten und dann hinauf auf ihr verschwanden, als wären sie direkt in den Himmel gestiegen. Von dort oben waren nur noch das endlose Getrappel der Schuhe auf nassen Treppenstufen und die schweren Atemzüge Tausender Menschen zu hören, die ungesehen – nichts sehend – zu ihren anonymen Arbeitsstellen hasteten.
    Fräulein Schulz? –
Der Mann hinter ihr musste trotz des schwachen Lichts sofort gewusst haben, wer sie war; oder er wurde von der gewünschten Olympiamaschine geleitet, die sie, bedeckt von der dazugehörigen Schutzhaube, unterm Arm trug.
    Sind Sie dann also für den heutigen Arbeitseinsatz bereit, Fräulein Schulz?
    Sie wandte sich um, genauso, als hätte ein richtiger Deutscher mit ihr gesprochen.
    Er aber sah nicht bösartig aus. Hatte ein Lächeln auf dem Gesicht. Unter der feuchten Hutkrempe schauten große Augen hervor, die immer größer wurden, je länger er sie anstarrte. Ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, von was für einer Arbeit er redete, folgte sie ihm durch den Nebel, zunächst zu einem engen Innenhof, dann eine Kellertreppe hinunter, mit Stufen, so schmal wie in einem Brunnenschacht. Am Boden des Treppenschachtes wartete eine massive Holztür mit breitem Vorhängeschloss. Der Mann nahm das Schloss ab und zog die knarrende Holztür vor ihnen auf.
    Hätte es nicht genug Regale oder jedenfalls Stützbretter gegeben, um |380| die Bücher an Ort und Stelle zu halten, wären all die Bände bereits da und dort auf sie gekippt –
    Überall lagen und standen Bücher: auf breiten, sich an die Wände lehnenden durchhängenden Regalen, auf Holzplatten oder Kartonstücken, die auf dem nackten Steinboden ausgelegt waren, türmten sich Bücher neben- und übereinander in hohen Stapeln, die dickeren, breiteren Bände unter die schmaleren geklemmt wie ungleichmäßige Steinblöcke einer Mauer.
    »All das hier ist das Werk von Rabbi Einhorn«, erklärte der Mann. »Die eigenen Bücher des Rabbis stellen nur einen Bruchteil von ihnen dar. Der Rest stammt aus jüdischen Wohnungen hier im Getto. Schon am ersten Tag, als die Deportationen einsetzten, begannen wir mit dem Sammeln. Allein der Gedanke, das Schriftgut könnte in unrechte Hände fallen, brachte Rechtsanwalt Neftalin dazu, einen Aquisitionsauftrag von der Wohnungsverwaltung zu erwirken. Demzufolge ist jeder Haus- und Blockwart verpflichtet, die von den deportierten Juden hinterlassenen Wohnungen, Keller und Bodenkammern durchzugehen und alles, was an Büchern und Schriften gefunden wird, hierher ins Archiv zu bringen, und wenn wir sagen alles, dann meinen wir buchstäblich
alles
«, sagte er lächelnd. »Hier haben wir nicht nur Bücher, sondern alle

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