Die Elenden von Lódz
weit weg von der Grenze, einige der dortigen Juden sind bereits geflohen; doch sie haben keine Waffen, wie man sie in Warschau hat, um sich zu verteidigen.«
Wo liegt Ponary?
, erwiderte sie lediglich.
Er aber gab keine Antwort. Sprach nur von Warschau, als hätte er Ewigkeiten dort gelebt:
|387| »In Warschau gibt es schließlich im ganzen Gettogebiet eine
kanalizacja
. Das bedeutet, man kann durch die Abwassertunnel Waffen ins Getto schaffen. Die Schmuggler auf der anderen Seite nehmen 50 000 Złoty für eine deutsche Armeepistole. Das Problem ist die Munition. Meine Gewährsleute von der ŻOB klagen darüber, dass ihnen die polnische Heimatarmee keine Munition zur Verfügung stellt. Ebenso wie hier weigern sich die Polen in Warschau, den Juden Waffen in die Hände zu geben. Manchmal scheint es, als hätten sie mehr Angst vor den Juden als vor den Deutschen selbst.«
Plötzlich schien ihr, als würden die Bücher, die sie in dem engen, ausgekühlten Kellerraum umgaben, lediglich auf einer dünnen Luftsäule ruhen und könnten jederzeit auf sie beide herabstürzen. Ihre erste Reaktion war, sich zu wehren. Wie könne er sich eigentlich unterstehen, sie mit all diesem Wissen zu überschütten, ohne sich zunächst zu vergewissern, dass sie dazu bereit sei oder es überhaupt wissen
wolle?
Von dem Verdacht, dass die Deportationen in manchen Gebieten zu Massenhinrichtungen von unerwünschten jüdischen Elementen geführt hätten, habe sie bereits mehrfach gehört. Jeder einzelne Beschäftigte in jedem einzelnen Ressort tue nichts anderes, als darüber zu spekulieren, was die Deutschen eigentlich für Absichten verfolgten. Dass aber irgendwo, ob in Warschau, Lublin oder Białystok, ein organisierter
Widerstand
gegen die deutsche Besatzungsmacht existiere, davon habe sie bislang nicht die leiseste Ahnung gehabt. Und wenn dem wirklich so sei, sagte sie, wie könne er dann mit seiner typischen großäugigen Miene dastehen und nur
über die Sache reden
? Wie könne er, oder wie können sie es einfach unterlassen,
irgendetwas zu tun?
Das Einzige, was er tat, nachdem sie all das gesagt hatte, war, sie weiter ruhig und felsenfest überzeugt anzustarren. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass sein Blick auch etwas Fanatisches hatte; eine vom Hunger gut verborgene, jedoch lange genährte Wut:
»Wer würde das nicht
wollen
?«, erwiderte er. »Aber woher sollen wir die Waffen nehmen? Und wenn wir uns Waffen beschaffen könnten:
Wie sollten wir es anstellen, die Erlaubnis des Ältesten für deren Benutzung zu erhalten?
«
Er lachte über seinen eigenen Scherz. Und dieses Lachen erstaunte |388| sie vielleicht am meisten. Es war grob und kratzend, so als würde es mit langen Ketten aus ihm gerissen. Danach saß er stumm da und starrte vor sich hin, mit demselben bleichen, gleichsam schlaftrunkenen Entsetzen im Blick wie zuvor, als er sie angestarrt hatte.
Mit den von ihm gebrachten verbotenen Dokumenten verfuhr sie, wie sie verstanden hatte, dass er es wollte, und wie es vielleicht von Anfang an seine Absicht gewesen war. Zwei Seiten aus der
Trybuna
befestigte sie auf der Innenseite eines Buches über Feuerwehren; Texte aus dem
Biuletyn Informacyjny
, der
Dziennik Żołnierza
und der
Głos Warszawy
klebte sie zwischen die Seiten der Jahresberichte der Łódźer Mosaischen Gemeinde. Die Monographie über den großen Sohn der Stadt, den Textilfabrikanten Israel Poznański, war dick genug, um auch mehrere Seiten ausgeschnittener Frontberichte aus dem
Völkischen Beobachter
und der
Litzmannstädter Zeitung
aufzunehmen. Um zu markieren, in welchem Buch und in welchem Regal die verbotenen Texte archiviert waren, ersann sie ein einfaches Codesystem, bestehend aus einer Buchstaben- und Ziffernkombination, die sie mit Bleistift rechts oben auf jeder maschinebeschriebenen Karteikarte vermerkte.
Nach mehrmonatiger Arbeit waren die Innenwände des Palastes gefüllt mit dieser Art Zeichen und Mitteilungen. Unsichtbar, dennoch lebendig verliefen sie kreuz und quer über die Bücherstapel, zwischen Einbänden und Bücherrücken hinein und wieder hinaus. Statt dass die schwankende Bibliothek, wie von ihr erhofft, dadurch gefestigt würde, erschien ihr das seltsame Buchbauwerk jedoch nur noch wackliger und unsicherer. In solchen Momenten kam es tief unten im Kellerraum zu einer Art seltsamem Sog: ähnlich dem starken Strudel, der beim Auslaufen des Wassers im Spülbecken entsteht. Und der Sog von unten war mitunter so stark, dass sie sich
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