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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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was sie in den Magen bekam, und mit dem Trubel und dem Stimmengewirr um sie herum.
    Aber der Schein trog. Vielleicht ließen sie sich alle von der Tatsache täuschen, dass sie dort »hinter der Tapete« überhaupt überlebt hatte. Nach kurzer Zeit wurde klar, dass Mamans Nieren das Essen, das sie ihr gaben, nicht vertrugen. Die primitive Dialyse, die Arnošt vornahm, funktionierte nicht, die Wunde im Bauch, dort, wo die Dialyseflüssigkeit |376| eintrat, schwoll an, und das Bauchfell entzündete sich, die Mutter bekam Fieber.
    Věra wachte bei ihr und wartete die ganze Nacht darauf, dass die »Krise« eintreten und das Fieber anschließend hoffentlich sinken würde. Doch es kam keine »Krise«. Zwar sank das Fieber ein wenig, aber Maman wachte nicht auf. Ihr Puls war schwach, sie atmete nun stoßweise, und ihr Herz war aus dem Rhythmus.
    Sie saßen alle an ihrer Seite, als sie starb. Věra erzählte ihrer Mutter von dem letzten Spaziergang, den sie gemeinsam durch den Riegerpark gemacht hatten, von den Vögeln, die in der Dämmerung von den Bäumen aufflogen und gleichsam einen zweiten Himmel über all den hoch aufragenden Prager Dächern und Kupfertürmen bildeten; und eine Weile schien es, als lächelte Maman ganz schwach und als würden ihre Finger, die Věra streichelte, zurückstreicheln. Dann blieb die Atmung langsam aus. Maman entledigte sich ihres Körpers, wie man sich eines alten schmutzigen Mantels entledigt, den man möglichst nicht mehr anfassen will, und als der Akt des Auskleidens beendet war, lag ihr Gesicht vollkommen ruhig und still, als wäre es von keinem je berührt worden.
     
    Sie begruben Maman am achtzehnten Tag des neuen Kalenderjahres 1943, an einem klaren, frostigen Morgen, als die Sonne blank und tief wie Rauch über den Mauerkronen von Marysin lag. Der Haupteingang zum großen Begräbnisplatz hatte vormals in der Bracka gelegen, am nordöstlichen Ende des Gettos, aber da diese Straße nunmehr auf arischem Territorium lag, hatte der Begräbnisverband ein kleineres Tor in der Ziegelmauer auf der westlichen Seite zur Zagajnikowa geöffnet, und durch dieses fuhren sie nun mit dem Wagen, den Professor Schulz hatte mieten lassen.
    Innerhalb der engen Mauern breitete sich die Stadt der Toten aus. Auf der linken Seite des Weges, der von der kleinen Leichenhalle ausging, erstreckten sich Erdwälle in langen Reihen, frostweiß glänzend in dem gedunsenen bläulichen Sonnenlicht.
    Hinter jedem Erdwall verbargen sich reihenweise Gräber, teils schon mit Erde bedeckt, teils in Erwartung ihrer Toten. Um dem Bedarf nachkommen |377| zu können, hatten sie bereits im November mit dem Graben angefangen, berichtete Józef Feldman, als sie den gewaschenen, in ein Leichentuch gehüllten Körper vom Wagen auf den niedrigen Karren hoben, auf dem die Toten hier innerhalb der Mauern transportiert wurden. Alle erinnerten sich, wie es im Jahr zuvor gewesen war, im Januar und Februar, als die Deportationen gerade eingesetzt hatten und man die Menschen in unbeheizten Barackenlagern zusammentrieb, in denen sie beim Warten auf die nicht eintreffenden Transporte erfroren waren. Damals hatte der Frost den Boden so tief durchdrungen, dass sich nicht einmal eine Brechstange in die Erde schlagen ließ, und ihnen war keine andere Wahl geblieben, als die Leichen übereinanderzustapeln und auf Tauwetter zu warten.
    Józef Feldman erzählte das in dem sorglosen, dennoch gleichsam mitfühlenden Ton, der jene kennzeichnet, die täglich mit den Toten zu tun haben, doch Věra hörte kaum auf die Worte des alten Mannes. Während sie hinter dem metallbeschlagenen, rhythmisch knarrenden Karrenrad, dem Rabbiner, der die Zeremonie verrichtet hatte, sowie dem Vater und den beiden Brüdern herging, sah sie in der Ferne eine weitere Gruppe Totengräber mit Schubkarre, Hacke und Spaten. Ihre Körperkonturen hatten sich in dem frostweißen Kältedunst nahezu aufgelöst, so dass sie ein paar Meter über dem Boden zu schweben schienen, und plötzlich war Věra, als würde vor ihrem Blick alles miteinander verschmelzen: das rhythmische Knarren des Wagenrads, die endlosen Reihen unbeschrifteter Gräber, der eisige Wind, der in die Wangen biss und ihr schmerzende Tränen aus den Augen trieb.
    Vermutlich war sie all diese offene Weite nicht gewohnt. Sie hatte nun schon so lange Zeit im Getto verbracht, dass ihr alles hier drinnen dunkel und beengt vorkam – wohin man auch ging, stets war man gezwungen, sich zu ducken oder anderen Platz zu

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