Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
Arten von Schriften und Publikationen. Noch aber hat niemand sie zählen können, keiner hat sie katalogisiert oder die Namen der früheren Besitzer ermittelt. Das alles bleibt noch zu tun.«
     
    Zwischen die schwankenden Bücherstapel hatte man einen Tisch für sie geklemmt. Herr Gliksman brachte ein paar warme Decken herunter. Später eine Glühbirne, die er aus seinem Mund pflückte wie ein Zirkusclown und in eine Fassung hoch oben an einer der Kellerdecken schraubte. Es machte ihm sichtlich Spaß, derartige Kunststückchen vorzuführen. Als sie nach einem Stift fragte, holte er ihn hinter dem Ohr hervor und zog dann aus dem Hemdärmel zwei Blätter Pauspapier, die sie zwischen die Seiten legen konnte, die sie in die Schreibmaschine spannte. Sämtliche Titel sollten zumindest zweimal registriert werden: zunächst auf normalen Karteikarten, dann auf langen Listen, die auch die Namen der früheren Besitzer enthielten.
    |381| In einer schrägen Lichtsäule, voll wirbelnden Ziegelstaubs und Schattenflecken, unternahm sie einen ersten Versuch, Ordnung in die Bücherstapel zu bringen. In manchen Regalen waren die Bücher bereits sortiert – entweder nach Themen oder in Bündeln oder Stapeln nach den Häuserblöcken, aus denen man sie geholt hatte; blanke abgegriffene Exemplare des Tanach; alte Gebetbücher, einige so klein, dass sie sich leicht unter einen Hemdzipfel oder in die Falte eines Kaftans nähen ließen; Fotoalben mit Bildern festlich gekleideter Männer und Frauen an langen, gedeckten Tischen oder von Schulkindern in kurzen Hosen und Kniestrümpfen auf einem Ausflug; Schulbücher mit Rechenaufgaben, Grammatiken auf Polnisch und Hebräisch; Kalender mehrerer Jahrzehnte; Heftchen mit Zugfahrplänen; übersetzte Romane von Lion Feuchtwanger, Theodor Fontane oder P. G. Wodehouse.
    Sorgfältig übertrug sie alle Namen und Titel auf die Karteikarten, die man ihr gegeben hatte.
    Das Problem war, dass sich nicht alle Titel als Bücher klassifizieren ließen. Was sollte sie beispielsweise mit all den privaten Haushaltsbüchern tun – es gab Hunderte von ihnen –, einfache Wachstuchhefte, in die die Hausfrauen die Summen für jeden Einkauf eingetragen und sie zusammengerechnet hatten?
    Aleksander Gliksman kam und ging, allerdings derart still und leise, dass sie ihn kaum bemerkte. Sie blickte von dem auf, was sie gerade in Händen hielt, und da war der Keller leer; dann schaute sie erneut auf, und da stand er wieder neben ihr und sah sie mit diesen großen Augen an, die immer größer zu werden schienen, je länger er sie anschaute. Zuweilen hatte er etwas zu essen dabei, außer der täglichen Mittagssuppe eine Scheibe Brot, bestrichen mit einer dünnen Margarineschicht oder belegt mit feingeschnittenen Radieschen. Manchmal aßen sie zusammen, und einmal fragte sie, warum es so wichtig sei, stets den separaten Eingang zu benutzen und ungesehen zu kommen und zu gehen?
    Sie hatte erwartet, dass er ausweichend antworten würde, doch er war überraschend aufrichtig. »Das Archiv ist das Herz des Gettos«, sagte er. Hier bekomme nur derjenige eine Anstellung, der sich höchster Gunst erfreue. Věra zähle nicht zu selbigen, und wenn es herauskäme, dass sie |382| ihre Stellung nicht auf »normalem Weg« erhalten habe, bestünde jederzeit die Gefahr, dass ein anderer Anspruch auf ihre Arbeitsaufgaben erhebe (obgleich der Chef des Archivs, Herr Neftalin, natürlich vollkommen damit einverstanden sei, dass sie hier arbeite). Überdies gebe es in ihrem Fall ja auch besondere Umstände, sagte er und deutete eine linkische Bewegung an, als wollte er ihre beiden vom Schmerz gekrümmten Hände vom Schoß heben. Er hätte es nicht zu sagen brauchen. Jedermann wusste inzwischen, welche Gefahren es barg, Personen, die man als nicht arbeitstauglich eingestuft hatte, zu beherbergen oder anzustellen.
    Ein paarmal aber nahm Herr Gliksman sie dennoch mit nach oben »ins Freie«. Nach langen Tagen im engen dunklen Keller erschien der große Archivsaal im zweiten Geschoss geradezu wie ein Wunder an Licht und Weite. In der Mitte des Saales stand ein großer Holzofen mit einem Ofenrohr, das entlang der Decke durch eins der breiten Fenster nach draußen führte. Neben dem Ofen musste es warm sein, denn die Archivare arbeiteten allesamt in Hemdsärmeln. Von den Karteitrommeln gab es fünf an der Zahl. Sie standen nebeneinander aufgereiht wie große achteckige Tombolaräder mit seitlichen Klappen, die sich wie Schranktüren nach außen

Weitere Kostenlose Bücher