Die Elenden von Lódz
mit beiden Händen an der Schreibtischkante festklammern musste, um nicht mitgerissen zu werden.
Das war der normale Hungerschwindel –
Sie kannte diese Mattigkeit, dieses Gefühl, dass sich alles Feste, das sie umgab, auflöste. Wie sich Bier- und Brauseetiketten aufgelöst hatten, |389| wenn sie die Flaschen in der großen wassergefüllten Waschwanne einweichte, die Maman sie nur ungern benutzen ließ.
(Sie konnte spüren, wie Mamans blonde Haare sie im Nacken kitzelten, auch den warmen Mutterkörper, der sich vorbeugte und sie umschloss, wenn sie ihr mit vorsichtigen Fingern half, die nassen Etiketten von den glatten Flaschenbäuchen zu lösen.)
Alles um sie herum war feucht und porös. Das Licht der Glühbirne, die Aleks in die Fassung an der Decke geschraubt hatte, leuchtete mit dunstigem Schein. Sie hörte ihn mit dem Essen kommen, hörte das blecherne Klappern der alten Milchkanne, in der er die Suppe verwahrte. (Oder war es vielleicht ein Stück trockenes Brot am Boden einer blankgeputzten Teebüchse?) Eines Tages hatte Aleks ein Glas mit eingelegten Gurken gebracht.
Mein Vater ist klajngertner
, erklärte er in demselben leicht beleidigten Tonfall, in dem alle eingesessenen Łódźer Juden zu reden schienen, wenn sie Jiddisch sprachen.
Doch so viel sie auch aß, es half nicht gegen den Hungersog, die Wirbelströme plötzlichen Schwindels, die Mattigkeit. Oder machte es sie krank, hier unten eingesperrt zu sein? Die rauhe Feuchtigkeit, die aus den Wänden sickerte und in ihre schmerzenden Schultergelenke und Halswirbel drang? Dass sie nie in richtiges Licht hinaufkam; auch nicht in richtiges Dunkel: Alles war reduziert zur selben wässrigen braungrauen Substanz, einem Gemisch aus Faulschlamm, stinkendem Kohlenrauch und Staub.
Mehrmals fragte sie Aleks, ob sie nicht etwas öfter nach oben in den Archivsaal kommen und dort sitzen könne. Ab und an ließ er sich darauf ein, allerdings nur widerstrebend, gleichsam wider besseres Wissen. Doch an einem Morgen verbot er es ihr gänzlich.
Der Präses ist hier
, sagte er nur und streckte den Kopf so weit vor, dass er mehr aussah wie ein wütender Wachhund als wie eine harmlose Schildkröte.
An diesem Tag hielt sich Aleks ungewöhnlich lange im Keller auf. Wie um sich zu vergewissern, dass die militärischen Kommandos und das heftige Stiefelgetrappel im Treppenhaus über ihnen nicht bis zu ihnen hinunterreichten, in dieses »Archiv im Archiv«, wie er es nannte, was die beiden zusammen aufgebaut hatten.
|390| Doch auch Aleks’ Besuche bei ihr hier unten verloren immer mehr an Konturen. Das nächste Mal, als er kam, konnte sie beim besten Willen nicht sagen, ob er gerade erst gegangen oder mehrere Tage fortgeblieben war, sie es aber nicht bemerkt hatte. Es war, als hätte in ihr eine Art unmerklicher, doch gigantischer Erdrutsch stattgefunden. Ganze Zeitflächen waren einfach verschwunden.
Nun wurde ihr klar, dass sie die Arbeit, um deren Ausführung Rabbi Einhorn sie gebeten hatte, nie bewältigen würde. Es gab einfach nicht genug Bücher, um all die Katastrophen aufzunehmen, die sich tagtäglich jenseits ihrer vollgepackten Kellerwände ereigneten. Als sie Aleks das erklärte, versuchte sie, darüber zu scherzen. Sie sagte, es sei doch »lustig«, bislang habe sie gemeint, das meiste im Getto überlebt zu haben – die Enge, den Hunger und die sanitäre Notlage im Kollektiv, ebenso wie Mamans lange Krankheit und die Versuche, ihre Mutter vor den Nazis, vor ihren Säuberungsaktionen zu verstecken! –, und dann komme sie in einen warmen, gemütlichen Kellerraum, erhalte eine Arbeit, die nach Gettomaß geringfügig genannt werden müsse, obendrein noch »Unmengen an Essen« – und plötzlich gleite ihr alles aus den Händen. In Wahrheit war es nur eine einzige Nachricht, die das Gleichgewicht kippen ließ, eine einzige Zeitungsseite, die Aleks ihr eines Morgens auf den Tisch gelegt hatte. Der Tonfall des Artikels war trotzig, aufrührerisch; doch konnte das die wahren Verhältnisse noch weniger verbergen. Unversehens verstand sie, dass der Aufstand, der, wie Aleks erzählt hatte, in Warschau stattfand, nun vorüber war und dass alle, die im Getto gelebt hatten, tot waren, falls überhaupt noch ein Getto existierte:
Jahr für Jahr haben die Deutschen sich als Vertreter einer stolzen, unüberwindlichen Edelrasse dargestellt, doch dann zeigt sich über Nacht, dass sie nichts anderes sind als ein Haufen sterblicher Männer, die fallen, wenn eine
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