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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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gefangen genommen, und Rückzug der Wehrmacht an allen Fronten«, sagt er und erklärt auf den Blättern der Karte, wie die Schlacht um Charkow verlaufen ist; dann zeigt er mit einer breiten Bleistiftmine, wie General Shukow seine Truppen anschließend in einer weiten Zangenbewegung zum Kaukasus vorstoßen ließ.
    Da die Karte aus losen Blättern besteht, identifizierbar allein mit Hilfe eines weit oben angebrachten Nummerncodes, lässt sie sich nach jeder Korrektur erneut auseinandernehmen und verstecken. Gliksman benutzt hierbei eine leicht verballhornte Codesprache. Die deutsche Armee nennt er
Paulus
oder nur
Pl
, nach dem Armeegeneral Friedrich Paulus, der bei Stalingrad so schimpflich kapitulieren musste. (Aleks kommt auf die Idee, dass man einen besonderen Feiertag einführen sollte, einen
Paulitag
, um genau dieser Schlacht zu gedenken.)
Azbuka
|385| oder einfach
Az
wird die russische Armee genannt, nach der altslawischen Bezeichnung für die kyrillischen Buchstaben, die kompakt und eintönig grau auf der der Karte zugrundeliegenden Makulatur hinunterfließen. Größere Städte oder Befestigungen werden mit
WG
bezeichnet – der Abkürzung für
Weliky Gorod
: »große Stadt« –, gefolgt von den drei Buchstaben
pad
für
padať
, »fallen«. Immer waren es die deutschen Stellungen, die fielen. Fielen sie
nicht
oder startete die Wehrmacht eine Gegenoffensive und eroberte zuvor verlorenen Boden zurück, strich Aleks die drei Buchstaben
pad
einfach durch. Denn Gliksmans
Karte
war eine
tendenziöse Karte
; russische Verluste wurden nur als vorerst ausgebliebene oder aufgeschobene Siege markiert.
    Woher hast du denn das alles?
Auf solche Fragen hat Aleks keine Antwort. Er hebt nur die Hand zu einer hilflosen Geste und wirkt wie ein Schuljunge, den man beim Äpfelstibitzen ertappt hat. Ein anderes Mal schlägt er sich mit der Hand fest gegen die Schläfe und sagt:
    Es kommt darauf an, alles im Kopf zu haben …!
    Und seiner Gewohnheit treu, greift er die Worte noch einmal auf:
    Es kommt darauf an, kühlen Kopf zu bewahren …!
    Da hat er die gesamte nordafrikanische Küste auf vier oder fünf Blättern gezeichnet, die kyrillische Hintergrundschrift fließt nun schmutzigbraun durch Libyens Wüsten:
     
    (Nach Kassarine verstärkt Rommel seine Panzerarmee in Nordafrika. Die Schlacht um Tunis wird die Entscheidung bringen …)
     
    Natürlich aber gab es Vorlagen. Wie sie später verstand, war die Karte nur eine Art Test, um ihre Loyalität zu prüfen. Allmählich tauchten auch Zeitungen und andere Dokumente mit den Büchern im Kellerraum auf. Allmorgendlich, wenn er die Tür für sie aufgeschlossen hatte, fand sie neue Zeitungsseiten unter oder zwischen die Bücherstapel oder Karteikästen geschoben. In erster Linie die
Litzmannstädter Zeitung
: Exemplare, vergessen oder entwendet von deutschen Polizisten oder Verwaltungskommissaren, die das Getto besucht hatten. Darin wurde der Rückzug der Wehrmacht ausschließlich als taktischer Versuch dargestellt, bestimmte Frontabschnitte »zu begradigen«. Doch selbst die |386| durch Propagandaminister Goebbels erfolgte Proklamation des »totalen Krieges« am 19. Februar 1943, abgedruckt auf zwei ganzen Seiten, vermochte die verzweifelte Situation der Deutschen nicht zu verbergen.
    Auch anderes Material ließ sich studieren. Dokumente, Schriftstücke, Aufrufe: aus illegalen Zeitungen gerissene Seiten, zuweilen von Nässe und Schimmel derart angegriffen, dass sie kaum zu entziffern waren. (Vermutlich hatten sie so lange am Boden einer Gemüsestiege oder Kartoffelkiste gelegen, dass sie die Farbe und Substanz der fauligen Lebensmittel annahmen.)
    Manche der Dokumente waren jedoch vollkommen intakt, wie etwa ein Exemplar der Zeitung des polnischen Widerstands,
Biuletyn Informacyjny
, in der er ihr einen Aufruf zeigte, wiedergegeben in Manuskriptform mit Versalien und gesperrter Schrift:
     
    JÜDISCHE JUNGEN UND MÄDCHEN, GLAUBT NICHT, WAS SIE EUCH EINZUREDEN VERSUCHEN …
    Sie holten unsere Eltern direkt vor unseren Augen,
    sie holten unsere Brüder und Schwestern.
    Die Männer, Tausende, die sich als Schwerarbeiter werben ließen,
    wo sind sie?
    Wo sind die Juden, deportiert an Jom Kippur?
    Von den durch die Gettotore Fortgebrachten kehrte
    KEIN EINZIGER zurück.
    ALLE WEGE DER GESTAPO FÜHREN NACH PONARY,
UND PONARY BEDEUTET TOD …!
     
    »Das hier ist aus Wilna«, stellte er mit trockener Sachlichkeit fest, die mehr erschreckte als der Inhalt des Dokuments. »Das liegt nicht

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