Die Elenden von Lódz
wurde.
Alle anderen wandten den Blick ab.
Adam war auf einmal zu einer Person geworden, mit der man nicht sprach. Es war wegen dieser Rückkehr von der Reserve. Gehörte man erst einmal zur Reserve, befand man sich gewissermaßen schon
außerhalb
des Gettos, selbst wenn der Transport noch nicht abgegangen war. Einer, der von der Reserve zurückkehrte, musste auf irgendeine Weise ausgesondert worden sein. Oder hatte man ihn womöglich als Denunzianten angeworben?
Da weiterhin militärisches Material zum Umladen eintraf, wurde Adam in regelmäßigen Abständen zur Entladerampe beordert. Plötzlich trafen auch große Mengen Kohl für das Getto ein. Normaler Weißkohl, |497| die äußeren Blätter so bleich und unreif, dass es aussah, als hätte man die Kohlkugeln mit Verbänden umwickelt. Weil große Teile des alten Gemüsedepots unter Wasser standen, mussten Adam und die anderen in seiner Arbeitskolonne sich Werkzeuge aushändigen lassen – Brecheisen, Hammer und kleine klobige Holzschlegel, mit deren Hilfe sie unter der Leitung von Schalz und der Aufsicht oder anderen Wachtposten flache, auf Pfählen angebrachte Holzkisten bauten, etwa drei mal vier Meter breit, in denen die Kohlköpfe vor dem Weitertransport ins Getto gestapelt werden konnten. Es war ein Zeichen für die bei den Behörden herrschende Verwirrung oder jedenfalls das immer mehr zunehmende Durcheinander, dass sie ihren jüdischen Arbeitern solch potentiell lebensgefährliche Werkzeuge überließen. Das hätte man zuvor nie getan.
Dieser Winter aber war auch ein eigentümlicher Schmelzwinter. Um überhaupt zum Hangar zu gelangen, musste man durch stinkende Schmutzlachen waten; und Olszer wies sie tagtäglich an, die fertiggegossenen Heraklithplatten nach Beendigung der Schicht zu stapeln und aufzubocken, damit sie nicht beschädigt würden, falls das Wasser in der Nacht weiter stieg. Adam war in der Kolonne wohl der Einzige, der sich wegen des Wassers keine Sorgen machte. Er wusste ja, woher es kam. Woher die Werkzeuge kamen, wusste er ebenfalls. Sobald er das Gewicht von Messer und Meißel in der Hand spürte, war ihm klar, dass eine höhere Macht ihm diese Werkzeuge in die Hände gelegt hatte.
Jankiel, Gabriel, die Gebrüder Szajnwald und die anderen aus seiner alten Arbeitsbrigade bekam er erst zu Gesicht, als der Suppenwagen angefahren kam. Alle wichen seinem Blick aus, nur Jankiel nicht, der nie vor jemandem auswich. Sobald Jankiel sich neben ihn gesetzt hatte, wusste Adam, dass er ihn nach seinem Onkel Lajb fragen musste. Er nannte diesen aber nicht beim Namen, beschrieb nur, wie er aussah: sein langes, schmales Gesicht, geformt wie ein Fahrradsattel mit kleinen schmalen Schlitzen für die Augen; beschrieb dann den Blick aus diesen Augenritzen, der zwar direkt auf einen gerichtet war, dennoch aber das, was diese Augen sahen, nicht wirklich anzusehen schien.
Jankiel begriff sofort, nach wem er fragte. Er seinerseits hätte jetzt fragen können, was Samstag und seine Leute mit Adam im Gefängnis gemacht hatten, wieso Adam plötzlich freigelassen worden war, warum |498| er nicht wie alle anderen, an denen die Sonder »Gefallen« gefunden hatte, in die Arbeitsreserve gesteckt worden war. Jankiel aber stellte diese Fragen nicht. Stattdessen sagte er:
Ist es wahr, was man munkelt, dass Lajb dein Onkel ist und dass du es ihm zu verdanken hast, die Arbeit hier bekommen zu haben?
Und als Adam wegschaute –
Hast du es auch ihm zu verdanken, dass du deine Arbeit jetzt wiederbekommen hast?
*
In Radogoszcz gab es viele, die sich daran erinnerten, wie es das letzte Mal gewesen war, als im Getto ein Suppenstreik ausbrach. Es war im September 1943 gewesen, ebenfalls in Marysin: in der Schuhmacherwerkstatt, genannt
Betrieb Iźbicki
, in dem man Holzschuhe und einfache Holzsandalen fertigte, die im Großen und Ganzen nur aus einer Holzsohle mit Querriemen bestanden und von denen Hunderttausende zu unerheblichen Kosten produziert werden konnten.
Der Betriebsleiter Berek Iźbicki war im Getto als richtiger Speichellecker bekannt. Vor den Behörden tat er alles, um als Musterbeispiel an Effektivität zu gelten, doch sobald die Inspektoren des Zentralen Arbeitsressorts ihm den Rücken zuwandten, begann er an allen Ecken zu knausern und behandelte seine Arbeiter obendrein schlechter als Tiere. Bei Iźbicki wurde die
resortka
Tag für Tag durchgeseiht. Während Vorarbeiter und Werkmeister, einschließlich Iźbicki selbst, eine kräftige, nahrhafte
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