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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Unbrauchbaren, für weitere Arbeit Untauglichen, der aus unbegreiflichem Grund Gnade vor den Behörden gefunden hatte und bleiben durfte. Ein Überlebender, oder vielleicht nur ein lebendiger Toter? Eines Tages beschloss er, dass es nun genug sei mit all der Hinkerei, und er brach aus der Marschkolonne aus, als diese auf dem Rückweg zum Getto war.
    Wohin willst du …?
, rief ihm Jankiel hinterher.
    (Dieser Jankiel hatte alles im Blick.)
    Sie erschießen dich, wenn du in diese Richtung gehst!
    Er aber ging dennoch.
    Am Radogoszcz-Tor stand der Wachturm bis zur Taille im Schneematsch, hoch oben der Posten, der über sein Spiegelbild im irrenden Tauwasser hinweg Ausschau hielt. Der Grenzzaun, der das Getto von der Stadt trennte, war kein Zaun mehr, nur noch ein Stück Draht, gespannt über rein gar nichts.
    Nachts kam es zuweilen vor, dass die Suchscheinwerfer eingeschaltet wurden: ein Schöpfbecher blanken Lichts erhob sich vom Boden zum wassergetränkten Himmel, während der einsame Wachtposten oben im Turm das Maschinengewehr auf alles richtete, was sich dort draußen bewegte:
    Rat-atta-tata-tatta-ta-ttaaa …
    Es hieß, dass Juden im Schutz der Nacht schwimmend versucht hätten, |504| jene Teile des Gettodrahtes, die nun unter Wasser lagen, zu überwinden. In Wahrheit waren es Ratten, auf die der Posten schoss. Die Fideleren aus der Wachmannschaft sagten, nun stünde es wirklich schlecht, wenn selbst die Ratten von Litzmannstadt vor der »Invasion der Bolschewiken« zu fliehen versuchten.
     
    Im Licht der Wasser- und Himmelsspiegel glich Marysin vor allem einem uralten Gesicht, dessen Züge sich mal deutlich abzeichneten, mal ausgestrichen wurden. Telegrafenmasten entlang der Jagiellónska und Zagajnikowa liefen wie lange Radspeichen über den Wasserspiegel. Um diese Radspeichen verstreut trieben die Blechdächer von Häusern und Werkstattgebäuden zwischen vom Wind gekräuselten Wasserflächen.
    Was vom Grünen Haus übrig war, hielt sich noch leidlich auf seinem Hang, wie auch die Begräbnisstätte hinter ihren Mauern und ein Stück weiter unten Józef Feldmans Gärtnerei mit ihren Gewächshausgiebeln und Geräteschuppen.
    Doch die alte Weide an Praszkiers Werkstatt, am Kreuzweg zwischen der Okopowa und Marysińska, schwamm mit ihren langen zartgrünen Zweigen wie ein Medusenkopf auf dem spiegelblanken Wasser. Hätte man das Getto von oben betrachten können, hätte man von der knorrigen Weide einen Strich bis zu den Abfallgruben ziehen können, wo die Latrinenträger ihre Tonnen abluden und entleerten.
    Alles, was dazwischen lag, war vom Wasser aufgelöst.
     
    Adam glaubte zunächst, der Gestank käme von den Latrinengruben, doch der hier war anders als der strenge, säuerliche Salpetergeruch von den Fäkalienbetten: dicker und mit einem muffigen Zusatz, stickigschwül.
    Der Hofplatz führte hinauf zu festerem Boden. Hier stand das, was ehemals die eigentliche »Werkstatt« gewesen war. Eine lange Reihe flacher Holzgebäude mit Stall und Anbauten, am Ende ein größeres freiliegendes Haus, das früher als Remise diente. Das aufgehakte Einfahrtstor zu einem dieser wettergebleichten Holzgebäude schlug im Wind.
    |505| Als er sich dem Tor näherte, dachte Adam, jemand hätte die Scharniere ölen sollen.
    Dann begriff er mit einem Schlag, dass der schrille hohe Ton nicht von den Scharnieren kam. Auch der Gestank nicht. Es waren Ratten.
     
    Lajb war in den wenigen Jahren, die vergangen waren, gealtert. Aus der Entfernung hätte man ihn für einen dieser polnischen Bauern halten können, die von früh bis spät auf dem Feld ackerten, bis die Haut von der Sonne schwarzgebrannt war. Doch es war keine Sonnenbräune. Aus der Nähe wirkte die Haut gedunsen, als ob es direkt unter ihr nässte und die Flüssigkeit auf dem Weg nach oben war. Die früher offenen, blassgrauen Augen lagen nun in aufgequollene Hautwülste gebettet, und der rote Schädel glänzte nass, fast wie ein Schleifstein.
    Lajb saß an einem langen Tisch, den er in die Mitte der Remise gezogen hatte, und in den um ihn stehenden Käfigen rannten Ratten die Wände hinauf und hinunter oder hieben ihre Klauen und spitzen Zähne fauchend in die Gitterstäbe.
    Treif …!
, sagte Lajb nur, unklar, ob er die Ratten meinte oder Adam, der auf der Schwelle gestockt hatte, überwältigt von dem unerhörten Gestank.
    In dem dunklen, schlammigen braungrauen Zwielicht sah er, wie Lajb vom Tisch aufstand und einen großen schwarzen Handschuh überzog. Mit der anderen

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