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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Suppe mit Gemüse und Kohlstücken, die man mit dem Schopflöffel erwischen konnte, erhielten, mussten sich gewöhnliche Arbeiter mit einem wässrigen Sud begnügen, der schlimmer als Spülwasser schmeckte.
    Nachdem das monatelang so gelaufen war, reichte es einem der Arbeiter, er schleuderte die Suppenschüssel zu Boden und schrie:
     
    Verdammt, das ist doch völlig ungenießbar, das trinke ich nicht.
     
    |499| Das Aufbegehren war nicht geplant. Dennoch gingen die Worte, die der Arbeiter geäußert hatte, gleich einer geheimen Botschaft von Mund zu Mund und erreichten am Ende auch Iźbicki, der bei seinem Mittagsmahl saß, bestehend aus einer Suppe mit Speckschwarte, eingelegter Roter Beete und Kartoffeln. Wutschäumend kam er die Reihe der Arbeiter, die am Ausschanktresen anstanden, entlanggestürmt und sagte:
    Wer hat hier was gegen meine Suppe einzuwenden?
    Als der Schumacher, der seine Schüssel fortgeschleudert hatte, ein wenig unbeholfen die Hand hob, packte ihn Iźbicki bei der Schulter und schlug ihm mit dem Handrücken direkt ins Gesicht.
    Da aber geschah etwas Unerhörtes:
    Statt sich in seine Strafe zu fügen, hob der widerspenstige Schuster seinerseits die Hand und hieb mit einer solchen Kraft auf Iźbicki ein, dass dieser platt zu Boden fiel.
    In der darauffolgenden allgemeinen Bestürzung kam eine Handvoll Ordnungskräfte mit erhobenen Schlagstöcken angerannt; doch statt dass die Arbeiter sich wie gewöhnlich zerstreuten, blieben sie wie angewurzelt stehen, und als Iźbicki mühsam auf die Beine kam und seine Arbeiter mit Schlägen und Stößen bewegen wollte, zu den an der Suppenausgabe wartenden Küchenmamsells weiterzugehen, reagierte erst der eine, dann der andere damit, einfach aus der Schlange zu trotten und mit leeren Händen an den Arbeitsplatz zurückzukehren.
    Der erste Suppenstreik war eine Tatsache.
    Die Krise galt als derart ernst, dass der Älteste hinzugerufen wurde, und selbiger ergriff schnurstracks eine Anzahl disziplinarischer Maßnahmen, die »gerecht« erscheinen konnten, weil sie alle ereilten. Zunächst erhielt Iźbicki eine Abreibung, weil er gegen einen der bei ihm Beschäftigten Gewalt angewendet hatte. Dann wurde dem widerspenstigen Schuhmacher gedroht, man würde ihm Arbeitskarte und Zuteilungskarten entziehen, wenn er mit seinen Aufwieglungsversuchen fortfuhr. Und es gab auch keinen Widerstand mehr. Der Schumacher schluckte gehorsam seine Suppe, behielt seine Arbeitskarte und schaffte es somit, sich selbst und seine Familie noch eine weitere kurze Zeit am Leben zu halten.
    Doch im Getto nistete sich das kleine Wörtchen
Suppenstreik
ein.
    Und die Arbeiter hatten etwas, woran sie sich erinnern konnten.
    |500| Denn selbst, wenn ein Arbeiter nichts entgegenzusetzen hat, nicht einmal sein eigenes Leben, und auch Verhandlungen nichts nützen, weil sein Arbeitgeber ohnehin nichts zu geben hat, liegt doch Macht in diesem einfachen
sich hinsetzen und seine Suppe verweigern …
Ein Fensterchen letzter Möglichkeiten, das sich plötzlich auftat, wenn selbst die äußersten Kräfte nicht mehr genügten. Sogar den jungen Jankiel hörte man tagtäglich wiederholen:
    Was, wenn wir uns einfach hinsetzen und uns weigern …!
    Auf den Suppenstreik bei Iźbicki im Sommer 1943 folgte ein langer schwerer Winter, und in Marysin oder Radogoszcz gab es niemanden, den die Bedingungen der Arbeiter interessierten: Alle hatten von früh bis spät zu schuften und zu placken und auf die Befehle der Aufseher zu achten. Doch dann brach aufs Neue der Frühling an, ein weiterer Kriegsfrühling. Und so als säße jenseits des Stacheldrahts irgendeine teuflische Intelligenz, die sich all das mit dem einzigen Zweck ausgedacht hätte, die Gettobewohner noch weiter zu plagen, trafen auf dem Güterbahnhof plötzlich Lebensmittel ein.
    Vier Jahre lang hatte das Getto nach Kartoffeln gerufen; nicht nach den verfaulten, frostschmierigen, stinkenden Knollen, die ab und an hier eintrafen, sondern nach richtigen Kartoffeln. Schorffleckig durften sie sein, wenn sie nur fest und hart waren, gern mit Spuren
richtiger
Erde an der Schale, so dass man zumindest ahnen konnte, aus welch fruchtbarem, lockerem und zugleich durchfeuchtetem Mutterboden man sie gegraben hatte.
    Vier Jahre lang hatte niemand solche Kartoffeln gesehen. Nun aber kamen sie. Zunächst all der Kohl, wenigstens eine Tonne; jeder Waggon randvoll mit knackigen blassgrünen Köpfen, die aussahen wie »Kinderschädel, denen man gern die Ohren schrubben

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